Merkel in der Türkei:Deutsche Wahlkampfhilfe für Erdoğan

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Ist sich Angela Merkel der Wirkung ihres Türkei-Besuchs bewusst? Hier die Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan im Februar in Berlin. (Foto: Getty Images)

Kanzlerin Merkel will am Sonntag den türkischen Präsidenten Erdoğan besuchen - mitten im Wahlkampf. Türkische Oppositionelle können nur staunen.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Wenn Angela Merkel am Sonntag in Ankara aus dem Flugzeug steigt, dann ist eines sicher: Sie wird damit ein starkes politisches Signal aussenden. Es ist völlig egal, was die guten Absichten der deutschen Kanzlerin sein mögen, völlig gleichgültig auch, wie gut ihr Besuch durchchoreografiert sein mag und welche Worte sie vor den Kameras wählen wird.

Allein schon aufgrund seines bemerkenswerten Timings wird dieser Merkel-Besuch sowohl von Anhängern wie auch von Kritikern der Politik des türkischen Präsidenten als klares Statement begriffen werden: als ein Akt, der Recep Tayyip Erdoğan den Rücken stärkt.

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Der türkische Präsident steht auf dem Höhepunkt seines Wahlkampfes. Bis zum Wahltermin am 1. November sind es nur noch wenige Tage. Da ist der Kanzlerinnenbesuch nicht politisch neutral, nicht nur ein alltägliches Arbeitsgespräch zwischen zwei politischen Anführern, die in der Flüchtlingskrise zur Zusammenarbeit gezwungen sind. Sondern dieser Besuch bedeutet eine symbolische Abkehr Berlins von seiner lange harten, fordernden Haltung gegenüber Erdoğan, der sein Land zielstrebig in Richtung Autokratie steuert.

Bislang verlangte Berlin von Erdoğan stets eine Korrektur dieses Kurses, es pochte auf europäische Werte, den Respekt vor Bürgerrechten vor allem. Und es unterstützte und ermutigte diejenigen in der Türkei, die sich noch nicht davon haben abbringen lassen, für Pluralismus und Demokratie zu kämpfen. Warum kann Merkel nun nicht wenigstens bis nach dem 1. November warten, bevor sie demonstrativ den Kopf der bedrängten Regierungspartei AKP als Partner grüßt?

Selbstzerstörerische Polarisierung

Aus der Erfahrung heraus lässt sich annehmen, dass die Regierungspartei AKP den Merkel-Besuch weidlich dazu nutzen wird, Merkel als Unterstützerin von Erdoğans Kurs darzustellen. Dadurch kann Deutschland nur an Sympathien verlieren in den Augen der verbliebenen unabhängigen Journalisten in der Türkei, der Opposition, der Kurden und Aleviten sowie besorgter Konservativer, Gläubiger, Linker, Säkularer und Liberaler - all jener also, die Erdoğans zunehmende Unterdrückung von abweichenden Meinungen mit Sorge sehen und deshalb den Wahltag am 1. November als Chance begreifen, die Alternativen zu ihm zu stärken.

Ist Merkel sich bewusst, in welcher Verfassung sich die Türkei in diesen Tagen befindet und wie akut der Ruf nach Demokratie dort geworden ist? Im Angesicht der furchtbaren Terroranschläge rückt das Land nicht zusammen, sondern es wird von seiner Regierung in eine selbstzerstörerische Polarisierung getrieben.

Wie der Essener Forscher Burak Çopur jüngst treffend der "Tagesschau" sagte, ist Erdoğan auch nicht daran interessiert, die Flüchtlingskrise zu lösen, sondern er instrumentalisiert das Problem, um an der Macht zu bleiben. Für die Mächtigen in Europa wird er in der Flüchtlingsfrage zu einem wertvollen Türsteher - und aus dieser Rolle heraus lassen sich Forderungen stellen.

Die Kanzlerin wird am Sonntag ein Land besuchen, dessen Institutionen ihrer demokratischen, überparteilichen Rolle zuletzt zunehmend entkleidet worden sind: In einem Großteil des öffentlichen Sektors und selbst in Teilen der Privatwirtschaft werden wichtige Positionen zunehmend nach dem Kriterium der Treue zur Regierungspartei besetzt. Die Judikative kontrolliert kaum mehr die Regierung, stattdessen wird sie zunehmend selbst zu deren verlängertem Arm.

Schändliche Festnahme eines Journalisten

In der Bevölkerung ist der Glaube daran verloren gegangen, dass politische Verbrechen oder Verbrechen im Zusammenhang mit innenpolitischen Spannungen vor einem Gericht unabhängig aufgeklärt werden können. Stattdessen bleiben die Menschen allein mit ihrer Wut und ihrer Empörung. Öffentliche Plätze verwandeln sich zunehmend in Orte des Protests und der hitzigen Konfrontation.

Das Parlament ist seit dem letzten Wahlgang am 7. Juni daran gehindert worden zu funktionieren. Meist ist es schlicht geschlossen, obwohl es gerade in diesen Tagen der nationalen Verunsicherung der richtige Ort für dringend notwendige Diskussionen wäre. Die Gewaltenteilung ist abgeschmolzen.

Die Medien haben kaum mehr die Chance, unabhängig und angstfrei zu berichten oder eine Vielfalt an Meinungen abzubilden. Die staatliche Zensur gegen Fernsehsender und die schleichende Verwandlung des Staatssenders TRT in ein AKP-Mundstück machen es der Opposition immer schwerer, Wähler zu erreichen.

Das Rückgrat der türkischen Medien wird vor allem durch die ständigen juristischen Angriffe gegen Journalisten angeknackst, durch die Drohung mit Gefängnisstrafen für "Beleidigung des Präsidenten", durch die Verbannung mutiger Kollegen hinter Gitter, wo sie oft monatelang ohne Anklageschrift ausharren müssen.

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Die kürzliche Festnahme von Bülent Keneş, dem Chefredakteur der Tageszeitung Today's Zaman, die auch in Berlin in politischen Kreisen wahrgenommen wurde, ist so schändlich wie bezeichnend. Inzwischen ist er zwar wieder entlassen worden, doch die Botschaft ist trotzdem deutlich - der Fall Keneş hängt wie ein Damoklesschwert über anderen kritischen Reportern.

Aus Sicht des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk genügte dieser Anlass, um in neuer Qualität Alarm zu schlagen. In einem Interview mit La Repubblica in dieser Woche sagte er: "Kritik zu üben ist für Journalisten dort drüben (in der Türkei) schwierig geworden. Man kann wegen eines Tweets gegen den Präsidenten verhaftet werden, wie es dem Chefredakteur von Today's Zaman passiert ist, Bülent Keneş."

Auch angesichts der von der türkischen Regierung betriebenen Dämonisierung der prokurdischen Partei HDP sowie der Gewalt, welche die Fairness der Wahl am 1. November bedroht, erscheint es zweifelhaft, warum sich Angela Merkel so sehr beeilt, sich mit Erdoğan gemeinsam auf großer Bühne zu zeigen.

Yavuz Baydar, türkischer Journalist. (Foto: privat)

Yavuz Baydar, 59, ist Kolumnist der türkischen Zeitung Today's Zaman . Deren Chefredakteur wurde in der vergangenen Woche verhaftet, weil er Präsident Erdoğan über den Kurznachrichtendienst Twitter beleidigt habe.

Übersetzung: Ronen Steinke

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