Merkel in der Türkei:Beim Türsteher Europas

Die AKP freut sich seit Tagen, jetzt ist Merkel zu Besuch in der Türkei. Es geht um die Flüchtlingskrise. In Deutschland bringt sie das in Bedrängnis. Braucht sie wirklich dieses Land? Wirklich diesen Mann: Erdoğan?

Von Mike Szymanski, Istanbul

Im Palast der Sterne funkeln die Kronleuchter und das Blattgold an den Wänden. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat Kanzlerin Merkel in den früheren Sultanssitz an den Westhängen des Bosporus eingeladen. Der Palast ist umgeben von einem Park mit verschlungenen Wegen, in dem die Istanbuler an den Wochenenden gerne spazieren gehen. Aber Merkel hat kaum einen Blick für diese Schönheit. Überhaupt wirkt sie so, als ob sie schnell wieder weg will.

Sie ist hier, weil sie hier sein muss. Davon ist sie überzeugt.

Die Flüchtlingskrise hat sie am Sonntag zu einer ihrer wohl schwierigsten Auslandsreisen aufbrechen lassen. Vor der Abreise in die Türkei erklärte sie ihren Anhängern beim Kreisparteitag der CDU in ihrem Wahlkreis noch: "Europa kann seine Außengrenze nicht alleine schützen, wenn wir nicht auch ein Abkommen mit der Türkei schließen." Sie brauche also die Türkei. Wirklich dieses Land? Wirklich diesen Mann: Erdoğan?

Er führt sich seit Monaten auf wie ein Alleinherrscher. Die Wahl im Juni endete für die türkische Regierungspartei mit einer Niederlage: Erdoğans AKP verlor die absolute Mehrheit. Sie fügte sich aber nicht in ihr Schicksal. In zwei Wochen wird schon wieder gewählt. Die Türkei steckt mitten im Wahlkampf. Die Armee führt einen Anti-Terror-Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Die Staatsspitze versucht die parlamentarische Vertretung der Kurden, die HDP, vor der Wahl in die Nähe der Terroristen zu rücken. Die HDP hatte mit überraschenden 13 Prozent bei der Juni-Wahl der AKP den Weg zur Alleinregierung verbaut. HDP-Chef Selahattin Demirtaş glaubt, dass seine Partei seither fertiggemacht werden soll.

Das ist die Lage, in der sich Merkel in der Türkei bewegt. Zum politischen Grundsound der vergangenen Monate gehörte es in Europa, die Türkei zu kritisieren. Jetzt wundert sich Murat Yetkin, Kommentator der Hürriyet Daily News. Er schreibt in seiner Kolumne, plötzlich habe Merkel ihre Liebe zu Erdoğan entdeckt. Er vergleicht ihren Kurswechsel mit dem panikartigen Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima.

Man fragt sich, ob diese Reise nicht noch Zeit bis nach den Wahlen gehabt hätte

Seit Tagen freut man sich in der AKP auf den Merkel-Besuch. Wer ranghohe Funktionäre in der Türkei trifft, bekommt sofort zu hören: "Es ist gut, dass Merkel kommt." In Deutschland bekommt Merkel fast nur Kritik zu hören. Grünen-Chef Cem Özdemir sagt: "Erdoğan ist doch nicht die Lösung der Probleme, sondern Erdoğan ist eine personifizierte Fluchtursache durch die Politik, für die er steht." Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken, sagte der Bild am Sonntag, Merkel biedere sich einem "Despoten" an. Ihre eigenen Leute und der Koalitionspartner SPD warnen vor "zu großen Zugeständnissen".

Erst mal geht es um große Erwartungen. Die Türken bekommen ihr Treffen von Merkel mit Erdoğan. Zunächst hieß es, die Kanzlerin werde nur mit Premier Ahmed Davutoğlu offiziell auftreten. Ein Signal dafür, Erdoğan nicht noch unnötig aufzuwerten. Es ist ja Wahlkampf. Bis zum Samstag ist nicht klar, wie die Begegnung Merkel-Erdoğan organisiert wird. Am Ende gibt es den offiziellen Termin, im Sternenpalast. Zwei Wochen vor der Wahl will er hofiert werden. Merkel sagt: "Ich habe die Auffassung, dass politische drängende Fragen auch im Wahlkampf besprochen werden können müssen." Merkel und Davutoğlu sind an diesem Tag für die Sachfragen zuständig. Als sie sich begegnen, ist die Stimmung gelöst.

Das Treffen mit Erdoğan dient der Machtdemonstration. Sie sitzen jetzt nebeneinander in zwei gleichgroßen, goldschimmernden Stühlen - wie zwei Sultane. Merkel sagt: "Es gibt gute Gründe, enger zusammenzuarbeiten." Jetzt in der Krise, später auch in der Europäischen Union.

Die Türkei hat ihren Preis in der Flüchtlingskrise schon genannt: Drei Milliarden von der EU

Lange Zeit haben Spitzenpolitiker aus dem Ausland einen Bogen um die Türkei gemacht. Auch Erdoğan braucht Merkel. Seitdem der Beitrittsprozess zur EU auf Eis liegt und die Nachbarländer zum Nahen und Mittleren Osten nach und nach kollabieren, ist es auch um Erdoğan einsam geworden. Im Frühjahr verstörte er noch mit der Aussage, was die Europäische Union sage, gehe bei ihm in ein Ohr rein, zum andere raus. Im Moment kann er gar nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Und mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien, die allein sein Land aufgenommen hat, versetzen ihn in der Flüchtlingskrise in die machtvolle Rolle des Türstehers zu Europa. Die Türkei hat ihren Preis schon genannt: Drei Milliarden Euro Finanzhilfe von der EU, um die Situation für die Flüchtlinge so weit zu verbessern, dass sie sich nicht gezwungen sehen, weiter nach Europa zu reisen. Aber Geld ist nicht alles. Geht es nach den Türken, dann soll die EU die Türkei als sicheres Herkunftsland einstufen - das wäre eine Art Gütesiegel, was die Wahrung der Menschenrechte angeht. Angesichts des Umgangs der Türken mit der Pressefreiheit und des Krieges gegen die PKK, der mit aller Härte geführt wird, wäre dies ein kühnes Vorhaben. Merkel sagt, sie sei bereit, darüber zu sprechen. Aber heute entscheidet sie nichts.

Die prokurdische Oppositionspartei HDP hat Merkel am Sonntag schon einen "schmutzigen Handel" unterstellt, als ihr Flieger noch gar nicht gelandet war. Erleichterungen bei der Erteilung von Visa, die ohnehin geplant sind, könnten vorgezogen werden. Merkel sagt: Deutschland hilft nach Kräften. Dies und ein Bekenntnis, die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen wieder in Gang zu setzen, tun politisch noch am wenigsten weh.

Tagelang war unklar, ob sie auch Vertreter der Opposition bei ihrem Besuch trifft. Am Sonntag heißt es dann: Nein. Dafür war offenbar keine Zeit mehr. Mit dem Besuch wollte Merkel ja auch nicht bis nach der Wahl warten.

German Chancellor Angela Merkel Visits Turkey

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu im Garten des Dolmabahce Palace in Istanbul.

(Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/Getty)
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: