Süddeutsche Zeitung

Merkel in der Flüchtlingskrise: Kanzlerin ihres Herzens

Die Kanzlerin hat "aus ihrem Herzen" gesprochen. Ein für Merkel revolutionärer Politikansatz. Und das einzige starke Argument, das sie den Skeptikern gerade entgegenhalten kann.

Kommentar von Thorsten Denkler, Berlin

Diesmal steht Angela Merkel ziemlich alleine da. Ihre Partei ist in weiten Teilen gegen sie. Die CDU-Basis vor allem, die bisher ihre Macht stützte, egal was da kam. Ihr Kabinett wackelt. Innenminister Thomas de Maizière macht klar, dass er so ganz überzeugt nicht ist von der "Wir schaffen das"-Lyrik seiner Chefin. Die Schwesterpartei CSU macht Druck. Und die Umfragen für sie persönlich und ihre Partei sacken ab.

Aber Merkel bleibt dabei. "Wir schaffen das", sagte sie am Mittwoch im ARD-Talk von Anne Will. Sicher auch an diesem Donnerstagabend auf der CDU-Regionalkonferenz in Wuppertal. Da trifft Kanzlerin auf Fußvolk. Auf jene, die ihre Ängste und Sorgen unreflektiert vor sich her tragen. Und die außer Merkels "Wir schaffen das" noch nichts gehört haben, was sie überzeugen könnte.

Merkel hat im Moment nicht viel in der Hand. Es ist ja richtig: Die Flüchtlinge werden die Wirtschaftskraft des Landes auf Dauer stärken. Aber das wird sich erst nach Jahren belegen lassen. Es ist auch richtig: Die Flüchtlinge bereichern das Land, ohne dass die Deutschen auf ihre Identität verzichten müssen. Aber auch das wird sich erst in Jahren nachvollziehen lassen. Vor allem in Regionen, in denen die Menschen bisher wenig Kontakt zu Ausländern haben. Viele Deutsche müssen erst lernen, dass es gut sein kann, wenn sie einen anderen Blick auf die Welt zulassen. Es gibt in Deutschland heute Muslime, die sind Karnevalsprinzen und Schützenkönige. Das dauert. Aber es geht.

Richtig ist ebenso: Es kommen im Moment zu viele Flüchtlinge auf einmal. Da knarrt und knackt es naturgemäß an allen Ecken und Kanten. Die Deutschen sind es gewohnt, dass alles einem großen Plan folgt. Jetzt müssen sie improvisieren. Das irritiert, verunsichert. Da gehen auch manchmal Maßstäbe verloren. Flüchtlinge, die um ihr Leben gerannt sind, sollen nicht in Turnhallen untergebracht werden können, weil dann für eine Weile der Sportunterricht ausfällt?

Die Ängste sind oft irrational, von Gerüchten geprägt. Darf im Süden der Nachbar noch mit "Grüß Gott" begrüßt werden, wenn ein Drittel der Dorfbewohner seit neuestem Muslime sind? Natürlich. Das steht außer Frage. Solche Ängste werden erst abgebaut, wenn sie von guten Erfahrungen entkräftet werden. Das braucht Zeit.

Keine Frage, es hätte jetzt besser laufen können. Die Bundesregierung - das muss sich Merkel vorhalten lassen - hat lange Zeit alle Zeichen offensiv ignoriert, die auf einen großen Zug von Flüchtlingen nach Europa und nach Deutschland hindeuteten. Merkel hat zu lange gewartet. So lange, dass die Flüchtlinge erst zu Zigtausenden an den Bahnhöfen von Budapest und Wien stehen mussten, bevor sie die Lage zur Kenntnis nahm. Und dann allen EU-Regeln zum Trotz den Flüchtlingen versprochen hat, erst mal in Deutschland bleiben zu können.

Die Entscheidung war richtig. Sie ist richtig. Sie war ein Akt der Humanität. Überraschend ist die Kehrtwende auch nicht. Solche Manöver hat Merkel schon früher vollzogen. Etwa als sie nach dem Atom-Unfall von Fukushima der Atomkraft abschwor. Oder als sie die Familienpolitik der CDU reformieren ließ. In beiden Fällen aber wusste sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Sie war auf der sicheren Seite. Das Risiko war überschaubar.

Merkel geht volles Risiko

Jetzt ist das anders. Merkel geht volles Risiko. Und sie hat nicht mehr in der Hand als ihre große Zuversicht, dass sie auch diese Krise meistern kann. Das ist eine ganze Menge. Aber das große Vertrauen schwindet langsam, dass ihr die Deutschen mehrheitlich selbst in der Euro-Krise noch entgegengebracht haben. Wenn Merkel ihre Kanzlerschaft nicht ernsthaft gefährden will, muss sie bis 2017 gezeigt haben, dass es geht. Geschafft sein wird es bis dahin nicht. Aber es muss deutlich werden, das alles auf einem guten Weg ist.

Möglich ist das. Dazu braucht es mehr als eine Kanzlerin. Dazu braucht es alle, die Verantwortung tragen. Merkel hat sich persönlich eingebracht, hat "aus meinem Herzen gesprochen". Das ist neu. Politik hatte für Merkel immer eher was mit nüchterner Analyse zu tun als mit heißem Herzen. Sie muss hoffen, dass sie damit auch die Herzen der Menschen in Deutschland erreicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2683086
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/ghe/dd
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.