Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Merkel - Frau Jenachdem agiert nicht mehr je nachdem

Früher galt die Kanzlerin als Opportunistin, heute schimpft man sie für das Gegenteil. Aber sie wird nicht umfallen.

Kommentar von Heribert Prantl

Viele wünschen sich heute von Angela Merkel genau das, was sie früher an ihr kritisiert haben: sie soll wieder elastisch, biegsam und abwaschbar sein. Die Kritiker der Flüchtlingspolitik, die CSU zuvorderst, sähen die Kanzlerin wieder gern in der Rolle, die diese viele Jahre so gut beherrscht hat: Als Opportunistin - als Politikerin also, die die Kunst beherrscht, mit dem Wind zu segeln, den andere machen. Das, in der Tat, konnte Merkel wunderbar. Sie war die Frau Jenachdem.

Das ist seit dem Spätsommer 2015, das ist seit der Flüchtlingskrise, das ist seit ihrem Satz "Wir schaffen das" vorbei. Ihre Kritiker verwünschen sie jetzt dafür, dass sie seitdem so ist, wie man sich sonst Politiker wünscht: souverän. Merkel gab bisher nicht nach, blieb aufrecht, vertrat das, was sie für richtig erkannt hat. Die CSU und viele Leute der CDU kritisieren sie dafür, dass sie sich nicht weichkochen lässt, dass sie bei ihrer Linie bleibt, dass sie also nicht numerische Obergrenzen für die Flüchtlingsaufnahme proklamiert und nicht die Grenzen abriegeln will.

Die Souveränität, mit der sie darauf beharrt, dass man mit diesen Rezepten der Probleme nicht Herr wird, treibt viele zur Weißglut - auch diejenigen, die wissen, dass die Kanzlerin letztlich recht hat. Die Renationalisierung des innereuropäischen Grenzregimes ist auch dann ein Fehler, wenn die anderen EU-Staaten diesen Fehler ebenfalls machen; und das Flüchtlingsproblem mit einer Zahlengrenze lösen zu wollen ist wie der Versuch, mit den Merseburger Zaubersprüchen Politik zu gestalten. "Vorübergehend", sagen manche Merkel-Kritiker, müsse man halt auch falsche Rezepte anwenden, um die Situation wieder zu beruhigen; deswegen seien sie temporär richtig.

Frau Jenachdem agiert nicht mehr je nachdem

Merkel war soeben zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit bei der CSU: Erst war sie beim CSU-Parteitag, dann in Wildbad Kreuth bei den Bundestagsabgeordneten der CSU, nun also auch noch bei den Landtagsabgeordneten der CSU in Kreuth.

Es wäre gut gewesen, sie wäre stattdessen schon viel früher kommunikativ gewesen. Es wäre gut gewesen, sie hätte frühzeitig versucht, mit den EU-Partnern und auch im Bundestag über ihre Flüchtlingspolitik zu reden. Die Merkelsche Flüchtlingspolitik ist zwar geradlinig, aber solipsistisch; es ist ihr nicht gelungen, mit ausgearbeiteten Plänen dafür zu werben.

Merkel wirft sich nicht vor den Landtagsabgeordneten in den Staub; sie wird nicht ausgerechnet bei dieser Gelegenheit klein beigeben, weil das ihren Rang als Weltpolitikerin ruinieren würde. Merkel ist Pastorentochter; mit dem Luther-Lied "Eine feste Burg ist unser Gott" ist sie groß geworden. Sie weiß, dass das keine nationalistische Hymne, kein Festungslied ist - sondern ein Anti-Angst-Lied der Geschlagenen, die keinen Helfer haben außer Gott. Sie wird in den nächsten Wochen diesen ihren Luther im Kopf haben und auch seinen Satz: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen. Und dann wird sie zeigen, dass sie doch auch ein klein wenig anders kann; so viel, wie unbedingt sein muss, um ein wenig Zeit zu gewinnen.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2016
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