Süddeutsche Zeitung

Angela Merkel:Die Frau an der Macht wird sichtbar - endlich!

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Erst gegen Ende ihrer Karriere fühlt sich die Kanzlerin frei genug, über ihr Frausein und verkrustete Strukturen zu sprechen. Sie hätte schon viel früher die Gelegenheit ergreifen sollen.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Jungfrau, Hure, Mutter. Das waren in der abendländischen Kultur traditionell die Rollen, die Frauen auszufüllen hatten. Jene Rollen, in denen man sie ernst nahm, in denen sie mitreden und mitbestimmen durften. Frauen waren entweder potenzielles Opfer, Femme fatale oder Fürsorgende. Wie stark diese Stereotype noch wirken, hat die "Me Too"-Debatte gezeigt, in der Frauen sich trauten, über zurückliegende Demütigungen zu reden, und Männer staunten, dass der öffentliche Diskurs plötzlich weiblich dominiert war. Nun wird es erneut deutlich, beim absehbaren Abgang Angela Merkels.

Die Bundeskanzlerin hat ihren Abschied aus der Politik erklärt und damit ihrer Macht selbstbestimmt ein Verfallsdatum gesetzt. Seither ist sie kaum wiederzuerkennen. Sie fühlt sich frei, über das zu reden, was sie persönlich bewegt, worüber sie aber nie sprach. Man erlebt nicht mehr die geschlechtsneutrale Regierungschefin, sondern eine Person. Die Frau an der Macht wird sichtbar, endlich! Und man fragt sich, warum erst jetzt, am Ende ihrer Karriere? Durfte Merkel, zeitweilig mächtigste Frau der Welt, nicht Frau sein - und zugleich an der Macht?

Dabei wurde ihr Frausein durchaus thematisiert, meist jedoch, um sie zu schwächen. Dass sie als Kanzlerin "Mutti" genannt wurde, hat Merkel nie gemocht, aber sie hat es hingenommen. Selbst wenn dieser Spitzname wohlwollend gemeint gewesen wäre - er hat auf dem glatten Parkett der Macht doch eine ganz andere Bedeutung. "Mutti" reduzierte Merkel auf angebliche mütterliche Instinkte und zeichnete in groben Zügen das Bild einer Person, die in der ganz großen Politik eigentlich nichts verloren hat. Wer die Bundeskanzlerin "Mutti" nennt, stellt ihre Führungskompetenz infrage.

Der Rückblick auf Merkels Regierungszeit zeigt eindrucksvoll, dass Macht ein ambivalentes Gut ist: Macht macht sexy, verspricht Anerkennung, Genugtuung. Aber Macht kostet auch. Die Frage, die jede und jeder Regierende für sich beantworten muss, ist, ob sie bereit sind, sich bis zur Selbstaufgabe zu disziplinieren, zu verzichten. Das gilt für Männer wie für Frauen. Aber für Frauen bedeutet es noch immer auch eine Verleugnung der eigenen Weiblichkeit. Denn Macht ist seit jeher männlich konnotiert. Merkel hat das verinnerlicht, um als ostdeutsche Frau in einer konservativen Partei zu herrschen.

Sie hat sich einer bewährten Strategie bedient und ihr Frausein in der Öffentlichkeit heruntergespielt. Schon Elizabeth I. erklärte sich zum androgynen Wesen - aus Machtkalkül. Sie herrschte 45 Jahre lang am männlich dominierten englischen Hofe. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher schulte ihre Stimme, um tiefer zu klingen. Und Heerscharen von Frauen versuchen noch immer, über den Hosenanzug ihrer eigenen Position Bedeutung zu verleihen.

Wie stark die alten Stereotype sind, zeigt sich daran, dass selbst eine mächtige Frau wie Merkel sich erst am Ende ihrer Karriere frei genug fühlt, über ihr Frausein und verkrustete Strukturen zu sprechen. Sie hätte schon viel früher die Gelegenheit ergreifen sollen. Immerhin, jetzt, da sie es sich erlaubt, hat sie eine interessante Botschaft, insbesondere für Frauen. Sie ermutigt sie, dafür zu kämpfen, dass Chefinnen künftig Dekolleté und Bein zeigen dürfen, ohne Macht zu verlieren. Sie fordert jetzt, wofür sie selbst nie stand.

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SZ vom 26.01.2019
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