Süddeutsche Zeitung

Angela Merkel:Europas Kanzlerin

In Merkels Regierungszeit hat Deutschland deutlich an Macht gewonnen. Am Ende ihrer Amtszeit geht die Kanzlerin ein hohes Risiko ein - mit Recht.

Kommentar von Stefan Kornelius

Der Vorwurf klebt wie Kaugummi an der Schuhsohle: Angela Merkel, aufgewachsen in der DDR, sozialisiert mit Blick auf Prag und Moskau, ohne das rheinisch-katholische Gen und damit angeblich ohne die joviale Geschmeidigkeit, die das Grenzvolk dies- und jenseits des Flusses auszeichnet - so jemand kann Europa nicht verstehen. Seit dem ersten Tag im Parteivorsitz als Nachnachfolgerin des pfälzischen Grenzbaum-Berserkers Helmut Kohl wird Angela Merkel ihre Europatauglichkeit abgesprochen.

Die Kanzlerin konnte tatsächlich nie verbergen, dass sie mit angelsächsischer Nüchternheit Politik betreibt, und dass ihr ein hohles Europa-Pathos fremd ist. Ihr spitzer Spott über den nervösen Franzosen Nicolas Sarkozy ist bekannt. Was sie von der wortgewaltigen Welterneuerungs-Rhetorik Emmanuel Macrons denkt, kann man ahnen.

Allerdings wurde Merkels Blick auch zu einer Zeit auf Europa gelenkt, als sich Gestalt und Charakter der EU stark veränderten. Damals, Mitte der Nullerjahre, wurde die EU größer, östlicher, heterogener. Der Pathos aus dem Verfassungskonvent ging im Katzenjammer der gescheiterten Referenden unter. Europa war von einer Schicksals- zu einer Zweckgemeinschaft mutiert, endgültig zu beobachten nach der Weltfinanzkrise, die zur Existenzkrise des Euro wurde.

Der Höhepunkt von Merkels Kanzlerschaft

Es schließt sich also kein Kreis, wenn Angela Merkel nach 13 Jahren erneut eine Ratspräsidentschaft anführt. Die Kanzlerin kehrt nicht reumütig zum Ausgangspunkt einer europäischen Reise zurück, auch wenn sie gerade mit dem französischen Präsidenten eine mächtige Zweckallianz geschlossen hat und die deutsch-französische Handlungsmacht Fantasien vom europäischen Superstaat zum Blühen bringt. Nein, zu beobachten ist vielmehr der vorläufige Höhe- und angesichts der auslaufenden Kanzlerschaft auch Endpunkt einer Strecke, die nicht immer geradlinig, aber dennoch zielgerichtet verlaufen ist.

Angela Merkel steht für ein Deutschland, das seine europäische Balance neu gefunden hat und dabei einen Machtgewinn verzeichnen durfte, der jeden künftigen Staatenlenker zunächst einmal demütig machen sollte.

Die schier endlose Projektionsfläche für Wünsche und Probleme zeugt zu Beginn der Ratspräsidentschaft von diesem Bedeutungsgewinn - und damit von der Last der Verantwortung. Dem Land traut man was zu, im Guten wie im weniger Guten. Deutschland agiert dank seiner geografischen Lage aus der Mitte befreundeter und verflochtener Staaten heraus, und es ist dank seiner wirtschaftlichen Kraft zur Führungsnation in Europa aufgestiegen. Das ist keine Leistung, die irgendein Stratege angestrebt hat oder die in Hinterzimmern ersonnen wurde. Diese Rolle ist eine Bürde, wie jeder weiß, der die deutsche Geschichte kennt.

In Merkels Amtszeit gab es drei große Krisen - und Deutschland wurde immer von deren voller Wucht verschont

Die EU der 27 Nationen ist nationaler, selbstbezogener, aber auch pragmatischer geworden. Europa weiß, was ihm guttut, und Deutschland weiß das ganz besonders, weil es die Wohltaten der Integration seit so vielen Jahrzehnten genießt. Europa ist Wohlstandsmaschine und Freiheitsgarant, es ist Sicherheitspuffer und Schockabsorber in einer unruhigen Welt. Den Deutschen ist ihre angenehme Lage nicht immer bewusst, Europa wird selbstverständlich hingenommen, obwohl die Konstruktion ständiger Pflege bedarf.

Drei große Krisen hat Merkel in ihrer Kanzlerschaft durchlebt, alle drei geben Aufschluss über ihren Regierungsstil und ihr Europabild: die Finanzkrise 2008 und die Euro-Krise, die auch im Kollaps der Währung hätte enden können; die Migrationskrise mit ihrer Gefährdung der Freizügigkeit, der Stabilität auf dem Balkan und natürlich des inneren Friedens; und nun die Corona-Krise, die den Kern des europäischen Versprechens, Binnenmarkt und Wohlstand, zerstören kann.

Deutschland wurde von der vollen Wucht aller drei Krisen verschont. Wirtschafts- und Währungsprobleme trafen den Süden besonders hart. Griechenland, Spanien und Italien waren es auch, die den Großteil der Lasten der Migration zu tragen hatten. Und die Pandemie hat in Deutschland weniger Opfer gefordert als in etlichen anderen EU-Ländern. Alles das Verdienst der Kanzlerin?

Die Kanzlerin geht ins Risiko

Der europäische Teil der Kanzlerschaft fällt, wie so vieles, unter das Präventions-Paradox: Im Nachhinein wird man schwer messen können, was durch eine andere Politik angerichtet worden wäre. Merkel ist eine Ex-Post-Kanzlerin, man wird sie nur rückblickend beurteilen können.

Bald ist dieser Zeitpunkt gekommen. Für die letzte Strecke ist Merkel entgegen ihrer Gewohnheit noch einmal ein Risiko eingegangen. Der Aufbaufonds ist gewaltig, sein Erfolg ungewiss, aber die Investition ist gut begründet. "Was gut für Europa ist, war und ist gut für Deutschland", hat Merkel gerade gesagt. Sie könnte den Satz auch drehen, er klänge dann nur weniger demütig. Am Ende aber sagt er alles aus: über die Kanzlerin, das Land und Europa.

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Quelle:
SZ vom 01.07.2020
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