Süddeutsche Zeitung

Deutsche EU-Ratspräsidentschaft:Merkels Masterplan

Die Bundeskanzlerin wurde häufig für ihre Nüchternheit gegenüber Europa kritisiert. In der Corona-Krise kämpft sie für ein nie dagewesenes Rettungspaket. Für Länder wie Italien oder Spanien fordert sie einen "außergewöhnlichen Akt der Solidarität".

Von Daniel Brössler und Stefan Kornelius, Berlin

Es war ein Satz, der anspornen sollte, eine Mutmacher-Formulierung. Angela Merkel erinnerte an Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl. Dann sagte sie: "Nichts muss so bleiben, wie es ist." Um die Bundeskanzlerin herum standen unweit des Brandenburger Tors alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Gefeiert wurde der 50. Geburtstag der Römischen Verträge. Unterzeichnet wurde eine "Berliner Erklärung", die in dem Bekenntnis gipfelte: "Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint."

Das war Merkels großer europäischer Moment - der Höhepunkt der deutschen Ratspräsidentschaft 2007. Wenn Deutschland nun am 1. Juli ohne jeden Pomp erneut den Vorsitz in der EU übernimmt, hallt vor allem dieser Merkel-Satz nach - diesmal allerdings als Warnung: Nichts muss so bleiben, wie es ist.

Europa steht vor seiner wohl größten ökonomischen Herausforderung. Prognose: ungewiss. Ein Wiederaufbaufonds soll eine Katastrophe abwenden. Merkel wird ihn in der Ratspräsidentschaft durchsetzen müssen. Nun wirbt sie dafür. Der Fonds "kann nicht alle Probleme Europas lösen. Ihn nicht zu haben, würde aber alle Probleme verstärken", sagt sie und fügt hinzu: "Es liegt im ureigenen Interesse aller Mitgliedstaaten, einen starken europäischen Binnenmarkt zu erhalten und in der Welt geschlossen aufzutreten."

Angela Merkel mahnt und wirbt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung und weiteren europäischen Blättern. In ihrem ersten Zeitungsinterview seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie zeichnet sie ein düsteres Bild zu Beginn der deutschen Präsidentschaft. Die Pandemie stelle die EU vor eine Herausforderung "beispiellosen Ausmaßes". Aus der Tiefe des wirtschaftlichen Einbruchs, der "großen disruptiven Phänomene" Klimawandel und Digitalisierung, der schwierigen Gemengelage innerhalb der EU und dem "rauen" Ton in der Welt ergibt sich aus Merkels Sicht ungeheurer Handlungsdruck.

"Wir sollten nicht zu oft die Existenzfrage stellen, sondern unsere Arbeit tun", folgert die Kanzlerin. Sie setze darauf, "dass die Mitgliedstaaten in einer so außergewöhnlichen Situation ein hohes Interesse an Gemeinsamkeiten haben". Nur wenn das stimmt, wird Merkel ihr zentrales Projekt für die Präsidentschaft durchsetzen können - den Wiederaufbaufonds, den sie zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen hat.

Die EU-Kommission hat für diesen Fonds ein Konzept vorgelegt, das finanziert über Kredite 750 Milliarden Euro in Bewegung setzen würde. Gestritten wird nun über die Verteilung und darüber, ob und in welchem Umfang Zahlungen als reine Zuschüsse erfolgen sollen. "Die besondere Herausforderung verlangt einen besonderen Weg. Für Länder, die schon eine sehr hohe Gesamtverschuldung haben, sind zusätzliche Kredite weniger sinnvoll als Zuschüsse", wirbt Merkel. Sie arbeite nun "dafür, auch die Länder zu überzeugen, die bisher Krediten zustimmen, aber Zuschüsse ablehnen". Durch die unterschiedliche Betroffenheit von der Pandemie müsse die Verteilung überdies "einem anderen Schlüssel folgen als bei einem normalen europäischen Haushalt".

Dramatischer Schwenk deutscher Europapolitik

Mit dem Ausmaß der Krise begründet Merkel auch den dramatischen Schwenk deutscher Europapolitik, die bisher gemeinsame europäische Schulden abgelehnt hatte. "In einer solchen Krise wird erwartet, dass jede und jeder das Notwendige tut. Das Notwendige ist in diesem Fall etwas Außergewöhnliches." Deutschland habe eine niedrige Verschuldungsrate und könne "sich in dieser außergewöhnlichen Situation eine höhere Verschuldung gestatten". Die Pandemie bringe für Länder wie Italien oder Spanien eine gewaltige Belastung - wirtschaftlich, medizinisch und wegen der vielen Toten auch emotional. "Da ist es geboten, dass Deutschland nicht nur an sich selbst denkt, sondern zu einem außergewöhnlichen Akt der Solidarität bereit ist."

Mit dem Fonds will Merkel sich nicht zuletzt gegen eine Erschütterung der europäischen Demokratien stemmen. "Eine sehr hohe Arbeitslosigkeit in einem Land kann dort politische Sprengkraft entwickeln. Die Gefährdungen für die Demokratie wären dann größer", umschreibt sie die existenzielle Herausforderung. "Damit Europa bestehen kann, muss auch seine Wirtschaft bestehen", stellt sie klar.

Sorge bereitet Merkel die fehlende internationale Kooperation. Deshalb müsse man nun "alles daransetzen, nicht in Protektionismus zu verfallen". Der "globale Anspruch" Chinas, aber auch der Wandel in den USA zwinge die Europäer zusammenzustehen. "Wir sind aufgewachsen in der Gewissheit, dass die USA Weltmacht sein wollen", sagt sie. "Wenn sich die USA nun aus freiem Willen aus der Rolle verabschieden sollten, müssten wir sehr grundsätzlich nachdenken."

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SZ vom 27.06.2020/mane
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