Flüchtlinge:Drei Worte für die Menschlichkeit

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Ein syrischer Flüchtling mit seinem Kind vor der griechischen Insel Lesbos. (Foto: Yannis Behrakis/REUTERS)

"Wir schaffen das" - Merkels Satz ist zum historischen Ausspruch geworden. Ihn mit Inhalt zu füllen, ist die große Aufgabe des 21. Jahrhunderts.

Kommentar von Heribert Prantl

Sie hätte etwas anderes sagen können. Sie hätte sagen können: "Ich kann mich doch von weinenden Kinderaugen nicht erpressen lassen." Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat so dahergeredet; und es gab auch deutsche Staatsschützer, die so gesprochen und mit solchen Sätzen Herzlosigkeit als angebliche Verantwortungsethik gepriesen haben: Deutschland müsse ein Exempel statuieren. Dosierte Brutalität sei besser als undosierte Aufnahmepolitik.

Hätte Angela Merkel also vor einem Jahr das Herz und die Grenzen dichtmachen sollen? Hätte sie die Bundespolizei zur Flüchtlingsabwehr antreten lassen und die Richtlinien der Politik notfalls mit Reizgas, Schlagstöcken und Wasserwerfen bestimmen sollen? Hätte die Kanzlerin die Flüchtlinge mit Gewalt aufhalten, hätte sie Tote und Verletzte in Kauf nehmen müssen? Flüchtlingskinder nicht am türkischen Strand bei Bodrum, sondern an der deutschen Grenze bei Passau?

Hätte sie dann im Fernsehen, zusammen mit Vizekanzler Sigmar Gabriel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière, eine Erklärung abgeben müssen, um mit entschlossener Miene für die harte Linie zu werben: "Liebe Landsleute, diese Bilder sind nicht schön. Sie tun uns weh. Aber wir können das Leid der Welt nicht aufnehmen; es ist zu groß. Unser Land war lange großzügig. Aber die Grenze der Belastbarkeit ist erreicht. Deshalb wollen wir nun die Grenzen schließen und schützen. Die Mittel, die wir dabei einsetzen müssen, gefallen uns nicht. Es gibt leider keine anderen. Wir müssen diese Not, wir müssen diese Bilder gemeinsam aushalten um der Stabilität und der Ordnung in Europa willen. Deutschland hat, zusammen mit Österreich, Ungarn und anderen Staaten der Balkanroute, die Achse der tätigen Vernunft gebildet. Sie wird dafür sorgen, dass sich die Situation an unseren Grenzen beruhigt. Wir werden die Vereinten Nationen bitten, sich um die Flüchtlinge noch intensiver zu kümmern und wir werden die finanziellen Mittel für die UN-Flüchtlingshilfe deutlich erhöhen."

Hätte es eine solche Politik, hätte es eine solche Erklärung gegeben - Deutschland wäre heute ein anderes Land, ein ungarisches: Aus dem Grundgesetz wäre vor Scham der Artikel 1 verschwunden, und es gäbe Untersuchungsausschüsse, um herauszufinden, wo er geblieben ist. Aber Merkel hätte heute, so sie bei solcher Politik Kanzlerin geblieben wäre, keine Probleme mit der AfD; dann wäre sie ja selbst AfD. Und die Wahl am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern wäre eine stinknormale Landtagswahl, für die sich kaum jemand interessierte. Das ist nun ganz anders: In Mecklenburg-Vorpommern gibt es zwar nur 1,3 Millionen Wahlberechtigte, etwa so viele wie in Hamburg. Aber in McPomm liegt der Merkel-Wahlkreis; deshalb hat diese Wahl, ein Jahr nach "Wir schaffen das", ein Jahr nach Aufnahme der von Ungarn missbehandelten Flüchtlinge, Symbolkraft - obwohl die Kanzlerin dort in für sie weniger stürmischen Zeiten auch nicht gut abgeschnitten hat.

Der kleine Satz war eine Reaktion auf pöbelhafte Beleidigungen in Sachsen

"Wir schaffen das": Diese 14 Buchstaben sind nun ein Jahr lang gedreht, gewendet, geschüttelt, gelobt und gegeißelt worden. War das einfach ein Mutmach-Satz für Staat, Gesellschaft und Europa? War das eine Einladung an Flüchtlinge? Ein Versprechen, gar eine Verheißung? Der kleine Satz war eine Reaktion auf pöbelhafte Beleidigungen gegen die Kanzlerin im sächsischen Heidenau. Er war eine Reaktion auf das Entsetzen vom 27. August, als auf der österreichischen Autobahn A 4 bei Potzneusiedl ein Lastwagen voller Leichen entdeckt wurde. Er war eine Reaktion auf das Massensterben im Mittelmeer.

Wir schaffen das: Es war ein Appell an die Menschlichkeit. Der Satz war Ausdruck einer anständigen inneren Haltung, die noch kein Programm war und lange zu keinem Programm führte; auch deswegen nicht, weil die Aufnahme- und Integrationspolitik in Merkels eigener Fraktion sabotiert wurde. Bisweilen konnte man den Eindruck haben, dass von einem Teil der politischen Bürokratie Chaos in Kauf genommen wurde, um Merkels Aufnahmepolitik zu diskreditieren und eine neue Abschreckungspolitik vorzubereiten; die wurde, unter dem Mantel des "Wir schaffen das", in den letzten Monaten legislativ verwirklicht. Noch nie in der bundesdeutschen Geschichte war das Flüchtlingsrecht so scharf wie heute.

Wir schaffen das: Angela Merkel hat zu wenig Politik mit ihrem Satz gemacht. Aber dieser Satz wurde zeitweise zu einem Funken der Hoffnung für Hunderttausende Hoffnungsflüchtlinge; das hat neue Probleme geschaffen. Merkel hat ihren Satz trotzdem stehen, sich von schlechten Umfragewerten nicht abbringen lassen. Das ist Haltung - wie sie die Merkel-Kritiker sonst von Politikern fordern. Gewiss: Haltung ersetzt nicht gute Politik. Aber sie ist Voraussetzung dafür. Im Gezeitenspiel der Stimmungen, im Wechsel vom Hui der Münchner Hauptbahnhof-Szenen vom September und dem Pfui der Kölner Hauptbahnhof-Szenen von Silvester, lässt sich verlässliche Politik sonst nicht machen.

Es braucht Einigkeit und Solidarität, um Menschen wieder Heimat zu geben

Ein Jahr nach Merkels 14 Buchstaben ist die Gesellschaft zerrissen, sie ist partiell schwer verängstigt. Eine Politik der 15 Buchstaben wäre jetzt notwendig: "Entängstigt euch!" Das funktioniert nur auf der Basis einer Leitkultur, die auf den Werten des Grundgesetzes aufbaut. Und das funktioniert nur dann, wenn sich die Menschen beheimatet und geschützt fühlen. Dann haben sie Kraft, selbst Schutz zu geben. Jeder zehnte Deutsche engagiert sich ehrenamtlich für Flüchtlinge. Das ist außergewöhnlich; das ist spektakulär. Das kommt im politischen Alltag viel zu kurz; der ist fixiert auf AfD und Pegida.

Merkels Satz ist zum historischen Wort geworden. Es steht, hoffentlich, am Beginn des Versuchs, entheimateten Menschen wieder Heimat zu geben; dazu braucht es Einigkeit und Solidarität; es ist dies die Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Das wird nicht immer so gehen, wie man es sich idealiter wünscht; der Deal mit der Türkei zeigt das. Und trotzdem: Lieber "Wir schaffen das" als "Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt." Merkels Satz steht neben dem von Willy Brandt: "Mehr Demokratie wagen." Drei Wörter. Ein Wort. Ein Auftrag.

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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