Süddeutsche Zeitung

Nach Anschlag in Berlin:Angela Merkel und der Preis der Menschlichkeit

Nach dem Attentat von Berlin geht es auch um das politische Schicksal der Bundeskanzlerin. Sie hat es zu einem guten Teil aber selbst in der Hand.

Kommentar von Nico Fried

Es war eine unnötige politische Aussage. Sie war ein Fehler, weil solche Worte dazu angetan sind, die Gräben in einer polarisierten Gesellschaft weiter zu vertiefen. Nein, die Rede ist hier nicht von Horst Seehofer. Es geht um Angela Merkels Satz, wenn der Anschlag in Berlin von einem Flüchtling verübt worden sein sollte, wäre dies "besonders widerwärtig gegenüber den vielen, vielen Deutschen, die tagtäglich in der Flüchtlingshilfe engagiert sind".

Die Absurdität erschließt sich in der logischen Umkehrung: Demnach wäre die Tat eines Flüchtlings für die vielen Menschen, die nicht in der Flüchtlingshilfe engagiert sind, weniger widerwärtig. Eine solche gesellschaftliche Kategorisierung kann Merkel selbst im Ernst nicht wollen. Man kann über die Morde am Breitscheidplatz so entsetzt sein wie der Aktivist von Pro Asyl, auch wenn man keinen Mantel ins Flüchtlingsheim um die Ecke gebracht hat. Und besonders um diese Menschen, die Merkels Flüchtlingspolitik seit Monaten eher hinnehmen, erdulden oder auch ablehnen, als begrüßen und unterstützen, muss es der Kanzlerin doch gehen in den heftigen Debatten, die auf die Tat von Berlin nun folgen werden.

Es kann etwas nicht stimmen in der Abschiebepraxis

Im Sommer, nach den Anschlägen von Würzburg und Ansbach, hat Merkel von der Bewährungsprobe gesprochen, vor die Deutschland und Europa durch die Kriege in der Nachbarschaft und die daraus resultierenden Flüchtlingswellen gestellt werde. Nach dem Anschlag von Berlin steht nun die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin selbst vor der vielleicht härtesten Bewährungsprobe. Merkels politisches Schicksal steht auf dem Spiel, und zugleich ist sie eine entscheidende Figur, wenn es darum geht, eine gespaltene Gesellschaft nicht vollends auseinanderdriften zu lassen.

Denn was sich bislang an Wissen über den mutmaßlichen (und diesmal hoffentlich richtigen) Täter abzeichnet, ist dazu angetan, dass am Ende zumindest genau das diskutiert wird, was Horst Seehofer, wenn auch zu früh, gefordert hat: Es kann etwas nicht stimmen in der Abschiebepraxis, wenn jemand aus Mangel an notwendigen Papieren nicht in seine Heimat gebracht werden, sich dafür aber in Deutschland so frei bewegen kann wie der Verdächtige Anis Amri. Es wirft Fragen auf an die Sicherheitsbehörden, wenn ein Mann offenbar als Gefährder erkannt ist, aber die Gefährdung nicht unterbunden werden kann. Anders gesagt: Es ist zu befürchten, dass das, was bisher eher abstrakt als Kontrollverlust bezeichnet wurde, sich im Fall des mutmaßlichen Täters in verheerender Weise als Überforderung der Behörden durch zu hohen Arbeitsanfall und Selbstlähmung des Staates durch überbordende Bürokratie erweist.

Die Frage nach dem Preis der Menschlichkeit

Es ist unbestreitbar, dass in den vergangenen Monaten viel geschehen ist, um eine humanitäre Großtat in geordnete Bahnen zu lenken. Die Frage lautet aber nicht nur, ob genug getan wurde, sondern auch, ob es schnell genug ging. Die schleppende Ausstellung von Ausweispapieren durch die tunesischen Behörden ist dafür ein beredtes Beispiel. Gemessen an der Zahl der Asylbewerber aus diesem Land steht der langwierige Aufwand, den Innenminister Thomas de Maizière betreiben musste, um mit den tunesischen Behörden bei Abkommen voranzukommen, in einem Missverhältnis. Dass die Papiere des mutmaßlichen Attentäters von Berlin zwei Tage nach dem Anschlag endlich eingetroffen sind, wirkt da wie Hohn.

Die Debatte, die Merkel nun bevorsteht, berührt das Grundsätzliche. Aber es wird nicht mehr die Debatte sein, ob es im Herbst 2015 überhaupt andere Möglichkeiten gegeben hätte, mit dem Flüchtlingsstrom umzugehen, ohne die westlichen Werte von Humanität und Solidarität aufzugeben. Da hätte sie noch immer die besseren Argumente. Es wird die Debatte sein über die Frage nach dem Preis der Mitmenschlichkeit und nach der politischen Verantwortung. Und die wird die Kanzlerin ganz neu führen müssen.

Die Tage seit dem Anschlag von Berlin haben die Polarisierung im Land so eindrucksvoll wie beängstigend manifestiert. Erst reagierten Merkels Kritiker und Widersacher teilweise wie enthemmt ob der Aussicht, dass ein Flüchtling der Täter gewesen sein könnte. Umgekehrt war auch mancher Triumphalismus der Merkel-Befürworter überzogen, als sich der erste Verdacht als falsch erwies. Es stimmt etwas nicht mit der Stimmung in einem Land, wenn die Frage nach einer politischen Ursache, ja über eine einzelne Person, so schrill diskutiert wird, dass die Opfer schon fast keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Auch darauf muss Merkel eine Antwort finden. Deshalb sollte sie auch alles vermeiden, was, wie ihr Satz vom Dienstag, danach aussieht, dass sie sich auf das Niveau ihrer Kritiker begibt.

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Quelle:
SZ vom 22.12.2016/ewid
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