Tag der Deutschen Einheit:Im Zipfelland

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Vor der Kirche St. Nikolai in Kiel nimmt die Bundeskanzlerin einen Brief entgegen. (Foto: dpa)

Wo neben dem Schwenkgrill die SED-Diktatur aufgearbeitet wird und Angela Merkel sich selbst im Archiv begegnet: Eindrücke von den Feierlichkeiten in Kiel.

Von Ralf Wiegand, Kiel

Altkanzler Gerhard Schröder hat einen Zipfelpass, der Komiker Otto Waalkes und der Skispringer Sven Hannawald sind im Besitz des seltenen Papieres und, bevor falsche Assoziationen aufkommen, auch Heide Simonis hat einen. Den Zipfelpass bekommt, wer alle vier Zipfelgemeinden der Bundesrepublik Deutschland besucht hat und das durch Erhalt der entsprechenden Stempel vom Zipfelbund dokumentieren kann - was man nicht alles lernen kann, am Tag der deutschen Einheit.

Die alljährliche Leistungsschau des Staates gastierte an diesem 3. Oktober, dem 30. seit dem Fall der Mauer 1989, zum zweiten Mal nach 2006 in Kiel. Schon seit 1999 gehört zu den Attraktionen auf der obligatorischen Feiermeile das Zelt des Zipfelbundes, unter Kennern Zipfelzelt genannt. Hier präsentieren sich die nördlichste, südlichste, westlichste und die östlichste Gemeinde der Republik, das sind List auf Sylt, Oberstdorf, Selfkant und Görlitz - als sozusagen letztes, bis 1989 noch fehlendes Grenzstück des vereinten Deutschlands.

Das Zipfelzelt ist ein wohltuend banaler Ort im ansonsten bildungsbürgerlich schwerst korrekten Festtagsprogramm, das sich die im Umgang mit sich selbst gelegentlich etwas gehemmten Deutschen jedes Jahr am 3. Oktober auferlegen. So präsentiert das Land am Nationalfeiertag in friedlicher Koexistenz mit dem Schwenkgrill nebenan den Pavillon der "Konferenz der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Folgen der kommunistischen Diktatur", nur wenige Schritte entfernt vom Stand der "Bundesgesellschaft für Endlager mbH". Die Probleme, die es gab, und die Probleme, die es gibt, auf einen Blick, oder, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede sagte: "Die Einheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess."

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Angela Merkel ist in ihrer Amtszeit inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie gelegentlich auf sich selbst stößt, wenn sie im Archiv nach zitierfähigen Anekdoten aus der Vergangenheit sucht. Das Schöne dabei ist, sie verhehlt es nicht. Also erzählte sie noch einmal, wie sie es schon vor 13 Jahren an gleicher Stelle getan habe, von ihren Erinnerungen an den ersten Tag der Einheit 1990. Damals seien über Nacht die ehemaligen Volkspolizisten der DDR in West-Uniformen gesteckt worden. Merkel habe in die Gesichter dieser Polizisten gesehen und sich gefragt, ob alle in der DDR "ihr Fühlen und ihre Erfahrungen" so einfach an der Garderobe abgeben können - oder "das vielleicht auch gar nicht wollen".

Die Frage stellt sich auch im 30. Jahr der Einheit noch, weswegen die Kanzlerin nach wie vor um Verständnis werben muss. Die Menschen im Westen seien, das liege in der Natur der Sache, eher Zuschauer der Wende gewesen, während den Osten nach der "Last der Teilung die Wucht der Einheit" getroffen habe, sagte die Bundeskanzlerin. Für viele sei die DDR - Merkel nannte sie "Untertanen- und Unrechtsstaat" - ein Gerüst gewesen, ihr Verlust ein Einschnitt. Zur Bilanz gehöre deshalb auch, dass sich "die Mehrheit der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlt". Weniger als 40 Prozent der Menschen im Osten hielten die Einheit für gelungen.

Nie war Kiel sicherer

Nie hatte Angela Merkel das härter zu spüren bekommen als vor drei Jahren beim Festakt in Dresden. Damals, im Jahr eins nach der großen Flucht, als fast eine Million Menschen über Meere und durch Wüsten bis nach Deutschland gekommen waren, schlug ihr Hass entgegen. Der Programmpunkt "Kontakt mit den Bürgern" eskalierte, zu viele wollten mehr schütteln als nur die Hand der Kanzlerin. "Merkel muss weg" skandierte die Menge, "Volksverräter", "Hau ab!". Vielleicht dachte Merkel daran, als sie in Kiel sagte: Wenn sich das Denken durchsetze, dass die Ursache für eigene Unzulänglichkeiten immer "beim Staat und bei den Eliten" abgeladen werden, "führt das ins Elend".

Die Eliten waren in Kiel vollständig versammelt, vom Bundespräsident abwärts und über alle Verfassungsorgane hinweg. Fast zwangsläufig ist der Tag der deutschen Einheit daher auch eine Machtdemonstration des Staates. Nie zuvor hat Kiel einen größeren Polizeieinsatz gesehen, auf mancher Verkehrsinsel der abgesperrten Innenstadt siedelten bis zu fünf Polizisten, in der Luft knatterten Hubschrauber, die GSG 9 war angeblich auch da. Fotografen war der Einsatz von Drohnen verboten, die Polizei selbst setzte zur Überwachung welche ein. Taucher sicherten die Förde.

Im vergangenen Jahr soll sich die Gruppe "Revolution Chemnitz", deren Mitglieder derzeit wegen Terrorverdachts vor Gericht stehen, die zentralen Einheitsfeiern als Anschlagsort damals in Berlin ausgesucht haben. Sie habe, so der Vorwurf, Chaos stiften und so eine Revolution auslösen wollen. Auch deshalb dürfte Kiel für einen Tag zum sichersten Ort des Landes gemacht worden sein. Eine Revolution wünschten sich zwar dort auch einige, aber nur auf Plakaten einer angemeldeten Demonstration. "Freiheit ist: Sagen, was man denkt", sagte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) - sogar wenn man denkt, der Sozialismus hätte die Wiedervereinigung überleben müssen. Das hohe Gut der Meinungsfreiheit fehlte in keiner Rede.

Ebenso wenig wie die Reisefreiheit: "Freiheit ist: Reisen, wohin man will", sagte Günther auch, und wer will, kann sogar versuchen, den Zipfelpass-Rekord zu brechen. Er steht seit diesem Sommer bei 71 Stunden für alle vier Gemeinden im Norden, Süden, Westen, Osten. Wer schneller ist, kommt ins Internet.

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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