Süddeutsche Zeitung

Corona-Beschlüsse:Merkel und die magische 75

Lesezeit: 4 min

Die Kanzlerin verteidigt die Corona-Beschlüsse als politische Entscheidung gegen teils wüste Angriffe. Und diesmal kann sie sich stützen auf eine große Einigkeit mit den Ländern.

Von Nico Fried, Berlin

Die Kanzlerin hat mit ihrer Rede noch nicht begonnen, da wüten Abgeordnete der AfD bereits in ihre Richtung. Früher hätte man gesagt, sie spucken Gift und Galle, heute muss man bedenken, dass sich ganz unredensartlich auch das eine oder andere Virus an die Aerosole heften könnte. Angela Merkel ist gekommen, um eine Regierungserklärung abzugeben, aber die größte Oppositionsfraktion will nichts erklärt haben, sie weiß es schon vorher besser.

Merkel spricht von den gestiegenen Infektionszahlen, den sich füllenden Krankenhäusern, der wachsenden Zahl zu beatmender Covid-19-Patienten. Sie sagt, viele Gesundheitsämter seien überfordert und dass man aus dieser Dynamik wieder herauskommen müsse, "schnellstmöglich". Die AfD schimpft immer noch, und nach einigen Minuten ist es dem überaus langmütigen Bundestagspräsidenten dann doch zu viel.

Wolfgang Schäuble unterbricht Merkel und wendet sich an die AfD. Das Land und die Welt befänden sich in einer "außergewöhnlich schwierigen Lage". Und er glaube, dass niemand dafür Verständnis habe, "wenn wir uns die Regierungserklärung nicht in der gebotenen Disziplin anhören würden". Danach werde es ja eine Aussprache geben. Erneute Zwischenrufe kontert Schäuble kühl: "Wenn Sie den Präsidenten unterbrechen, bekommen Sie gleich Ordnungsrufe", sagt er und ergänzt auf gut Badisch: "Desch gefährlich."

Es mag der Intuition des Juristen Schäuble geschuldet sein, dass er die Aufmerksamkeit für Merkel gerade an einer Stelle einfordert, die von besonderer Bedeutung ist. So bekommt die Kanzlerin die günstige Gelegenheit, den Satz zu wiederholen, den sie bereits vor Schäubles Intervention gesagt hatte. Die Maßnahmen, auf die sie sich am Vorabend mit den Ministerpräsidenten verständigt hat, um die zweite Corona-Welle zu brechen, seien "geeignet, erforderlich und verhältnismäßig".

Dieser Begründung dürfte man vor den Gerichten des Landes nun häufig begegnen. Wirte werden sie anfechten, die Betreiber von Kosmetikstudios, Künstler oder Kinobesitzer. Merkel sagt, sie "verstehe die Frustration, ja die Verzweiflung" von Menschen, die in diesen Bereichen arbeiteten. Sie hätten in Hygienekonzepte investiert und fragten sich nun, ob das alles umsonst gewesen sei. Es bedürfe jedoch einer "generellen und systematischen Reduzierung" der Kontakte, so die Kanzlerin, "am besten um bis zu 75 Prozent". Danach brauche man auch wieder die Hygienekonzepte.

Die Zahl 75 Prozent spielt bei Merkel noch eine Rolle. Von 75 Prozent der Infektionen könne man nämlich nicht sagen, wo sich die Betroffenen angesteckt hätten. Dieses Dunkelfeld ist das Argument gegen jene, die ihre jeweilige Branche nicht als Ort der Virusverbreitung sehen. Denen hält Merkel, kurz zusammengefasst, entgegen: Nichts Genaues weiß man nicht. Und sie sagt offen, dass es vor allem eine politische Entscheidung war, zu beschließen: Schulen und weite Teile der Wirtschaft bleiben offen, Freizeitaktivitäten und private Treffen werden unterbunden.

Aber was ist eigentlich geschehen seit dem 14. Oktober? Denn noch vor zwei Wochen waren Kanzlerin und Ministerpräsidenten nach endlosen Stunden des Verhandelns mit einem schmalen Katalog auseinandergegangen, der nur unentschlossene Kontaktbeschränkungen enthielt, entschärfte Sperrstunden, ausgefranste Teilnehmerlimits und jede Menge Protokoll-Erklärungen, warum Länder dies oder das nicht mittragen. Merkel prophezeite damals, dass dies nicht reichen werde, um die Infektionsdynamik zu stoppen: "Dann sitzen wir in zwei Wochen eben wieder hier."

So kam es. Als Merkel am Mittwochmorgen im Kabinett darauf angesprochen wurde, stellte sie nur den Finger senkrecht vor die Lippen. Psst, nicht darüber reden. Am Abend in der Pressekonferenz antwortete sie auf die Frage, ob das Land nun den Preis für das Scheitern vor zwei Wochen zahle, das sei "rein theoretisch richtig". Allerdings brauche man eben für alles politische Akzeptanz, und die habe es vor zwei Wochen für weitergehende Schritte nicht gegeben.

Jetzt schon. Die Infektionszahlen hinterließen bei vielen Ministerpräsidenten Eindruck. Am ehrlichsten sagte das Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow, als er von einer Entwicklung sprach, die er nicht für möglich gehalten habe. Und auch die öffentliche Empörung über das Chaos bei den Beherbergungsverboten war nicht spurlos an den Länderchefs vorübergegangen. Sie wussten, dass jetzt Gemeinsamkeit erwartet wurde.

Vor allem aber hatten Merkel und Finanzminister Olaf Scholz schon in den Vorgesprächen mit zehn Milliarden Euro gewinkt, um die wirtschaftlichen Folgen der Beschränkungen aufzufangen. Wieder ging es um 75 Prozent, diesmal vom Umsatz im November des Vorjahres für jeden Betroffenen. Das sei, schwärmte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Mittwoch, "ein wirklich einmalig gutes Angebot".

So gibt es nun also die große Einigkeit zwischen Bund und Ländern, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass die Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) aus Rheinland-Pfalz und ihr Kollege Armin Laschet (CDU) aus Nordrhein-Westfalen am Donnerstag der Debatte im Bundestag beiwohnen. Sie hören, wie Alexander Gauland von der AfD die Sitzungen Merkels mit den Ministerpräsidenten als "eine Art Kriegskabinett" bezeichnet und von einer Corona-Diktatur spricht. Aufmerksam lauschen Dreyer und Laschet Christian Lindners Rede, dessen FDP in ihren jeweiligen Ländern mit in der Regierung sitzt. Lindner nennt einige Maßnahmen "für den Gesundheitsschutz unnötig und gegenüber den Menschen unfair", die seine Parteifreunde in Mainz und Düsseldorf mit umsetzen dürften.

Vom 2. bis zum 30. November sollen die Beschränkungen gelten. Mehrere Rednerinnen und Redner stellen die Frage, was eigentlich passiert, wenn danach die Infektionszahlen wieder steigen. Komischerweise fragt aber niemand, was eigentlich geschieht, wenn sie vorher gar nicht erst sinken, wenn sich also die Beschlüsse vom Mittwoch als unwirksam erweisen. In der Videokonferenz Merkels mit den Länderchefs hat das kurz eine Rolle gespielt, als man sich verabredete, die Effekte in zwei Wochen zu evaluieren. "Wenn wir dann nichts sehen", so wird Merkel in für die Kanzlerin durchaus typischer Mundart zitiert, "ist das nicht so dolle."

Doch zurück in den Bundestag. Denn nun kommt noch Ralph Brinkhaus. Der Fraktionschef der Union mokiert sich über die Klagen der Opposition, das Parlament werde nicht ausreichend an der Corona-Politik beteiligt. Er aber hat 70 Debatten zum Thema Corona gezählt, und mit diversen Haushaltsbeschlüssen habe der Bundestag erst den Rahmen für die Arbeit der Regierung geschaffen. Man dürfe mangelnden Erfolg eigener Anträge nicht mit mangelnder Mitsprache des Parlaments verwechseln, so Brinkhaus. Es ist ein furioser Auftritt des sonst eher spröden CDU-Mannes, emotional, leidenschaftlich und komplett frei gesprochen. Volker Kauder, dem Brinkhaus einst den Fraktionsvorsitz abnahm, klatscht immer wieder, sogar die SPD-Fraktion ist begeistert. Und die Kanzlerin, für die es nicht so schlecht lief in den vergangenen ein, zwei Tagen, lächelt leise vor sich hin.

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