Süddeutsche Zeitung

Ein Jahr Groko:Über allem schwebt Merkels Abschied

Wann und wie geht die Kanzlerin? Sowohl die Regierungsparteien als auch die Opposition drehen sich seit Monaten um diese Frage. Manche lähmt das, andere beflügelt es. Eine Bestandsaufnahme.

Von Stefan Braun, Berlin

So einfach ist das nicht mit dem Rückzug von Angela Merkel. Natürlich nicht, nach fast zwanzig Jahren an der Parteispitze und mehr als 13 Jahren im Kanzleramt. Merkel hat Inhalte und Anmutung deutscher Politik geprägt. Und ihr ist noch etwas ganz anderes gelungen.

Obwohl sie im vergangenen Oktober ihren Abschied von der CDU-Spitze ankündigte und zwei Monate später vollzog, hat ihr das bis heute politisch an keiner Stelle geschadet. Im Gegenteil. Annegret Kramp-Karrenbauer ist im Dezember ihre Nachfolgerin als CDU-Vorsitzende geworden, aber Merkels Ansehen ist gestiegen. Ihre Umfragewerte sind mittlerweile so gut, dass unter normalen Bedingungen kein Mensch auf die Idee käme, über einen Rücktritt der Kanzlerin nachzudenken.

Trotzdem ist das Gegenteil der Fall. Was vor allem daran liegt, dass man im politischen Berlin diese Art eines politischen Übergangs noch nie erlebt hat. Eine CDU-Vorsitzende, die als Parteichefin aufhört, ist zugleich eine Kanzlerin, die ihre Überzeugungen so offen wie nie zuvor ausspricht. Selten hat Merkel derart entschlossene Reden gehalten. Und selten bis nie hatten die Menschen das Gefühl, tatsächlich zu spüren, was diese Kanzlerin im Inneren ausmacht.

Doch das ändert nichts mehr an der Ausgangslage. Spätestens zu Ende dieser Legislaturperiode tritt Merkel ab. Und weil das schon jetzt jeder weiß, kreisen die Gedanken. Wann sagt sie Adieu? Wie sagt sie es? Und was passiert danach? Auf keine dieser Frage gibt es derzeit eine Antwort.

In Berlin haben alle das Gefühl, dass sie sich schnellstmöglich auf alles Mögliche vorbereiten müssten. Wie kann da noch eine Koalition funktionieren? Was machen die Grünen als derzeitige Umfragegewinner, wenn sie plötzlich mit der Bitte des Bundespräsidenten konfrontiert wären, doch noch mal Jamaika zu versuchen? Nichts davon ist einfach. Nicht für die CDU, nicht für die SPD, nicht für die anderen Parteien. Eine Bestandsaufnahme ein Jahr nach Bildung der großen Koalition.

Die Lage der Union - sie ist höchst kompliziert

Annegret Kramp-Karrenbauer, die neue Parteichefin, weiß, dass alles, was derzeit passiert, in einer Art Lauerstellung geschieht. Bislang bleibt ihr nur das Wort, der Vorschlag, die Idee. Wirklich harte Entscheidungen kann sie alleine nicht bieten. Auch wenn sie dem Koalitionsausschuss angehört - über den Kopf der Kanzlerin hinweg kann sie nichts machen. Was sie sagt, ist eine Wette auf die Zukunft. Und niemand weiß, ob die Dinge wirklich zu 100 Prozent tatsächlich so kommen werden, wie sie es jetzt andeutet oder zusagt. Solange Merkel nicht zurücktritt, ist Merkel da. Da lässt sich auch für AKK wenig machen.

Gleichzeitig wird sie, was eigentlich ein gutes Gefühl sein müsste, bitterernst genommen. Ob nach den Äußerungen während der Fasnacht oder nach ihrer Antwort auf den französischen Präsidenten. Es gibt nicht mehr viele Spielflächen zum Ausprobieren. Alle schauen auf sie, weil sie es künftig sein könnte. Als Kanzlerin, als starke Frau Deutschlands, als mächtigste Frau Europas. Sein könnte wohlgemerkt.

Denn ein letzter Rest Zweifel bleibt. Und das vor allem, weil nach ihrem furiosen Auftritt in Hamburg die Umfragen nur für sehr kurze Zeit nach oben gingen. Ja, wer es härter ausdrücken mag, könnte zu Recht betonen, dass selbst ihre Heldengeschichte von Hamburg, als sie in den Augen vieler einen ganz gefährlichen Drachen namens Friedrich Merz besiegen konnte, nicht zum großen neuen Schwung für die Partei ausreichte. CDU und CSU hängen immer noch bei 30 Prozent fest. Das ist kein Aufbruch mit riesigem Schwung, es ist zu einem mühsameren Berganstieg geworden.

Dabei folgen ihr im Augenblick viele in der Union. Aber ob das so bleibt? Wenn bei der Europawahl Ende Mai nicht so etwas wie ein Sprung gelingt, könnte es dauerhaft holpriger werden. Und als das Institut Allensbach vor wenigen Wochen eine Art Vergleich zwischen Merkel und Kramp-Karrenbauer vornahm, lag die Kanzlerin in so gut wie allen Kategorien vor der CDU-Chefin.

Die Lage der SPD: Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung

Ähnlich merkwürdig dürfte sich die Politik derzeit für Andrea Nahles, die SPD-Vorsitzende, anfühlen. Auf der einen Seite hängt die SPD noch immer im Umfragetief fest. Bei den meisten Instituten sind es zwar nicht mehr nur 15 oder 16 Prozent, sondern ein klein wenig mehr. Trotzdem will es zum dauerhaften Besserwerden nicht reichen.

Gleichzeitig ist seit der Präsentation des neuen Sozialstaatskonzepts und dem demonstrativ endgültigen Abschied von den Hartz-IV-Härten die Welt eine andere für die SPD-Chefin. Nach dem Motto: Mag sein, dass draußen immer noch viele Feinde und enttäuschte Ex-Anhänger sind - wir hier drin in der SPD-Familie haben uns wieder zusammengefunden.

Offen ist allein, ob das jenseits der mittleren und gehobenen SPD-Funktionärsschicht tatsächlich weite Teile der Gesellschaft ansteckt. Noch ist davon nicht allzu viel zu spüren. Stattdessen läuft auch die SPD Gefahr, sich in "Wann geht Merkel"-Debatten zu verheddern und so Wähler wegzutreiben. Das aber wird sofort gefährlich, wenn es sie von der eigentlichen Aufgabe ablenkt: Zu klären und zu erklären, was sie mit diesem Land in den kommenden zehn Jahren vorhaben. Nichts hat den Volksparteien zuletzt so sehr geschadet wie das weit verbreitete Gefühl, dass sie sich immer mehr um sich selbst drehen und sich kaum noch um die Probleme im Land kümmern.

Die Lage der AfD: Irgendwie im Niemandsland

Der AfD fehlt derzeit das, was sie über viele Monate genießen konnte: das Momentum auf ihrer Seite. Die Umfragen weisen keinen nachhaltigen Zuwachs mehr aus; die Stimmung intern ist alles andere als gut, weil sich die Geschichten über einen möglichen Rückzug von Parteichef Alexander Gauland häufen. Und weil der Ärger über dessen Co-Vorsitzende in Partei und Fraktion immer lauter wird.

Sowohl Jörg Meuthen als auch Alice Weidel kämpfen mit den Schmerzen rund um ihre fragwürdigen und aller Voraussicht nach strafbewährten Wahlkampfspenden-Affären. Längst haben die Widersacher Zitate zusammengestellt, in denen Meuthen und Weidel sich als besonders heroische Verteidiger von Recht und Ordnung präsentieren - und jetzt selbst offenkundig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Dass so demonstrativ zelebrierte Saubermann-Image fällt umso härter auf sie selbst zurück.

Beide müssen derzeit mit Strafzahlungen für die AfD rechnen. Das kommt in keiner Partei gut an - und lähmt aktuell offenkundig führende Vertreter eben jener Partei, die so gern forsch auftritt.

Hinzu kommt, dass der Teil-Rückzug von Merkel den vielen Anti-Merkel-Politikern in der AfD den Schwung nimmt, auch wenn die Kanzlerin als Kanzlerin noch gar nicht weg ist.

Die Lage der Grünen: Zwischen Schwung und Grübeln

Für die Grünen könnte noch immer alles einfach schön sein. Die Umfragen sind zwar nicht mehr heroisch, sie liegen bei den meisten Instituten bei etwa zwanzig Prozent. Aber die Werte sind für die Führung um Annalena Baerbock und Robert Habeck immer noch so gut, dass sie sich Hoffnungen auf weitere sehr gute Ergebnisse machen.

Die Grünen verzeichnen einen Mitgliederzuwachs, während die Volksparteien erhebliche Verluste hinnehmen mussten. Besonders deutlich ist das im Osten zu spüren, und das nährt bei Baerbock und Co die Hoffnung, dass in diesem Jahr auch in der ostdeutschen Diaspora die Lage richtig gut werden könnte.

Wer genauer hinsieht, kann aber erkennen, wie offen auch die Spitzengrünen das Rennen im Osten halten. Da mag es sie beruhigen, dass zuvor die Abstimmung in Europa ansteht.

Die Tonlage im bisherigen Europawahlkampf jedenfalls dürfte ihnen zupasskommen. Sie sind die einzigen, die mit absoluter Konsequenz einen proeuropäischen, mit anderen EU-Partnern sozial-solidarischen Kurs einfordern, der auch Geld kosten würde. Sie geben sich weltoffen und werden auch so verstanden. Das gibt ihnen im EU-Wahlkampf eine gewisse Glaubwürdigkeit und scheint ihnen ein gutes Ergebnis sichern zu können.

Doch obwohl die Aussichten nicht schlecht sind, könnte den Grünen bald eine komplizierte Debatte ins Haus stehen. Was tun, wenn die SPD im Herbst dann doch aus der Koalition aussteigen sollte? Was machen, wenn der Bundespräsident an die staatspolitische Verantwortung der Grünen appellieren würde, an die die Grünen an anderer Stelle oft und laut erinnern? Dass die Parteispitze um Baerbock und Habeck für Jamaika derzeit wenig Sympathie entwickelt, kann kaum überraschen. Zu schön sind die aktuellen Umfragen. Wer wollte da schon gerne ohne Neuwahlen in ein Bündnis gehen?

Die Lage der FDP: üben, üben, üben

Die Liberalen haben im Augenblick wenig Grund zum Jubeln - aber auch wenig Grund, sich aufzuregen. Natürlich haben sie registriert, dass sie aktuell kaum bis gar nicht von der Schwäche der Koalitionsparteien profitieren. Andererseits ist das Gefühl, seit Monaten sehr stabil bei rund neun Prozent zu liegen, für all jene, die noch die alten Zeiten kennen, gar nicht so schlecht.

Auch aus diesem Grund ist die Aufregung in den Reihen der FDP eher gering; sie tun derzeit das, was sie ohnehin tun müssen: üben, üben, üben. Und sich vorbereiten. Das gelingt in der relativen Ruhe, in der Christian Lindner und die Kollegen agieren können, am besten. Und wenn die Koalition doch zerbricht? Dann kann die FDP alles auf sich zukommen lassen.

Denn das Hauptziel, das Lindner einst erst leise und dann laut ausgab, lautete: Wir machen vieles, aber erst, wenn es nicht mehr Angela Merkel sein wird. Und das, so viel scheint sicher, wird der Fall sein, sobald die Koalition beendet ist.

Die Lage der Linkspartei: Selbstbeschäftigung und Häutung

Darauf hat Dietmar Bartsch ein halbes Leben gewartet: Dass seine ewige Widersacherin Sahra Wagenknecht endlich das Feld räumt. Mit einem Mal tut sie das, und sie macht es wie immer: mit Pauken und Trompeten. Das könnte für Bartsch das Leben schön machen.

Ob das aber wirklich so sein wird, weiß niemand. Manchmal nämlich gehört es zum Ende ungleicher Doppelspitzen, dass sie ungewollt und nur von einem angestoßen, gemeinsam abstürzen.

Insgesamt könnte Wagenknechts angekündigter Abschied für den liberalen Teil der Linken zu einer Befreiung werden. Plötzlich öffnet sich Spielraum in Richtung möglicher Bündnisse mit SPD und Grünen - so viel Spielraum für neue Phantasien hat es schon lange nicht mehr gegeben. Was indes noch lange nicht heißt, dass die anderen aus dem Wagenknecht-Flügel einfach klein beigeben. Wie sie sich verhalten werden, wie sie sich neu organisieren und welche Konsequenzen das haben könnte - es weiß derzeit niemand.

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