Als Helmut Kohl 1996 so weit war, erreichten ihn Glückwunsche der Präsidenten Bill Clinton und Boris Jelzin. Kommentatoren nannten Kohl "Kanzler auf unabsehbare Zeit", überschrieben ihre Artikel mit "Ewig währt am längsten" und hielten Otto von Bismarcks 19 Jahre als Kanzler für das nächste realistische Ziel. Angela Merkel kann weder mit Telegrammen aus Washington und Moskau rechnen, noch mit publizistischen Vorahnungen einer politischen Unendlichkeit, wenn sie am Montag ihren 5144. Tag im Kanzleramt erlebt - einen Tag mehr als Konrad Adenauer. Für sie bedeutet es ja erst Platz zwei.
Merkel würde Kohl, der es auf 5870 Tage brachte, erst in 726 Tagen einholen. Die Kanzlerin kann glaubhaft den Eindruck vermitteln, dass ihr solche Marken wenig bedeuten. Vielleicht hat diese fehlende Eitelkeit sogar dazu beigetragen, dass die Deutschen Merkel vier Mal die Regierungsbildung anvertrauten. Vor allem aber ist die Tatsache, dass nur drei CDU-Kanzler zusammen insgesamt 44 Jahre regiert haben, Ausdruck eines Hangs zur Kontinuität, die in anderen demokratischen Staaten ihresgleichen sucht.
Merkel und Adenauer, das sind zweimal 14 Jahre, die nur schwer zu vergleichen sind. Die Jahre des Wiederaufbaus und der Reintegration Deutschlands in die Staatengemeinschaft nach dem Krieg erforderten sehr grundsätzliche Entscheidungen, von der sozialen Marktwirtschaft über die West-Bindung bis zur Wiederbewaffnung. Merkels Jahre in einer globalisierten Welt und im Übergang zum digitalen Zeitalter bezogen ihre Intensität aus einer zunehmenden Atemlosigkeit politischer Prozesse.
Am deutlichsten sind die Unterschiede in Geschwindigkeit und Reichweite der Politik an den Reisen ablesbar: Merkel hat inzwischen 89 Staaten besucht, viele davon mehrmals. Adenauer war nie in Afrika, Südamerika oder Australien. Er unternahm in den 14 Jahren seiner Amtszeit 54 Auslandsreisen, so viele hatte Merkel bereits nach eineinhalb Jahren hinter sich - man könnte sagen, sie regiert in dieser Hinsicht mehr als sieben Mal so schnell wie ihr Vorgänger.
Der Beschleunigung alles Politischen stand hierzulande eine bemerkenswerte Beharrlichkeit in den politischen Präferenzen gegenüber. Die Deutschen mochten es in der Vergangenheit unterm Strich am liebsten, moderat konservativ regiert zu werden.
Insgesamt waren Kanzler der Union in 50 von 70 Jahren Bundesrepublik an der Regierung, unter ihnen keiner aus der CSU; Macht war für die CDU meist mehr Zustand als Herausforderung. Diese Genügsamkeit einer Mehrheit der Bürger entspringt einer ausgeprägten Neigung zum Vertrauten. Die Macht, der die Deutschen am wenigsten Argwohn entgegenbringen, ist die Macht der Gewohnheit.
Selbst von den drei sozialdemokratischen Kanzlern konnte nur Willy Brandt für sich in Anspruch nehmen, dass seine Wahl das politische Äquivalent einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung bildete. Dass kein SPD-Kanzler länger als acht Jahre regieren oder mehr als zwei Wahlen hat gewinnen können, lag weniger an einer Unzufriedenheit der Bürger. Vielmehr standen die Erwartungen der SPD oft im umgekehrten Verhältnis zu Geduld und Loyalität der Partei mit ihren Kanzlern.
Den Hang der Deutschen zur Beständigkeit haben Merkel und Adenauer hemmungslos ausgenutzt
Ansonsten aber hat sich die Haltung "Da weiß man, was man hat" über die Persil-Werbung hinaus in der Politik etabliert. Nur 2005 hätte beinahe ein SPD-Kanzler von den Beharrungskräften profitiert: Viele Wähler, die sich in den Umfragen noch zu Merkel bekannt hatten, fielen in der Wahlkabine um. Die CDU-Kandidatin eroberte die Kanzlerschaft daher nur knapp.
In der Art, wie Adenauer und Merkel diesen Hang der Deutschen zur Beständigkeit nach jeweils acht Jahren Kanzlerschaft hemmungslos ausnutzten, liegt eine augenfällige Parallele. Adenauer plakatierte 1957: "Keine Experimente", Merkel beendete ihr Schluss-Statement im Fernsehduell gegen Peer Steinbrück 2013 direkt an die Zuschauer gewandt mit den Worten: "Sie kennen mich."
Wie bei Adenauer prägt auch bei Merkel die Nachfolgefrage die letzte Amtszeit, obgleich unter anderen Vorzeichen. Anders als Adenauer und Kohl, die beide zuletzt eine selbstverliebte Überzeugung von der eigenen Unersetzlichkeit umtrieb, hat es Merkel geschafft, dass ihre vierte Kandidatur als eine Art patriotisches Zugeständnis an die schwierigen Umstände (Trump, Brexit) wahrgenommen wurde. Und indem sie ihrer politischen Laufbahn von sich aus ein Enddatum setzte, schuf sie unter wachsendem Druck womöglich erst die Voraussetzung dafür, überhaupt so lange im Amt bleiben zu können.
Danach aber kommt etwas Neues. Zum ersten Mal seit 1949 können die Bürger bei der nächsten Bundestagswahl nicht über einen Amtsinhaber urteilen. Die guten persönlichen Umfragewerte Merkels wirken derzeit, als bäume sich die Macht der Gewohnheit ein letztes Mal auf. Doch spätestens 2021 hat diese Macht hierzulande kein Herrschaftsgebiet mehr.