Menschenrechte:Türkei will Straßburger Richter ehren

Menschenrechte: Zweifelhafte Ehrung: der Richter Róbert Spanó.

Zweifelhafte Ehrung: der Richter Róbert Spanó.

(Foto: ECHRPR/CC BY-SA 4.0)

Opposition und Intellektuelle reagieren empört auf anstehende Würdigung des Juristen Róbert Ragnar Spanó.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Der Türkei-Besuch eines der wichtigsten europäischen Menschenrechtsjuristen, der mit einem Doktorhut der Universität Istanbul geehrt werden soll, hat zu einem Aufschrei bei Opposition und Intellektuellen geführt. Róbert Ragnar Spanó, Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, ist in Ankara von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan empfangen worden. Vor angehenden Richtern und Staatsanwälten sollte er in der "Gerechtigkeitsakademie" eine Rede über Menschenrechte halten sowie einen Ehrendoktor der Universität Istanbul entgegennehmen.

Angesichts der desaströsen Menschen-rechtslage kritisierten türkische Oppositi-onelle in scharfen Worten schon vor Spanós Ankunft, dass der Isländer sich als EGMR-Präsident mit dem juristischen Doktortitel eines Landes ehren lasse, in dem keine Rechtsstaatlichkeit herrsche. Er solle stattdessen die Menschenrechtslage bei seinem Treffen mit Erdoğan zur Sprache bringen. Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs 2016 waren Zehntausende Armeeangehörige, Beamte und Publizisten unter vage formulierten Terrorvorwürfen inhaftiert oder aus ihren Ämtern entlassen worden. Auch die Meinungsfreiheit wird immer stärker eingeschränkt. Inzwischen betrifft dies nicht nur klassische Medien, auch die Sozialen Medien sollen kontrolliert werden. Auch Rechtsanwälte fühlen sich in ihrer berufsständischen Unabhängigkeit beschnitten, seit die Zulassung alternativer Anwaltskammern gestattet worden ist.

Zudem werden frei gewählte Vertreter der prokurdischen Oppositionspartei HDP häufig von ihren Bürgermeisterposten ab-gesetzt. Der HDP-Politiker Selahattin Demirtaş sitzt seit 2016 in U-Haft. Der HDP-Co-Vorsitzende Mithat Sancar schrieb in einem offenen Brief an EGMR-Präsident Spanó, die Menschenrechtslage habe sich in den vergangenen Jahren "kontinuierlich und systematisch verschlechtert". Europäische Institutionen hätten festgestellt, dass "die türkische Regierung offen gegen die Prinzipien verstößt, auf denen der Europarat und der EGMR ruhen".

Die Kritik an Spanó teilte auch Wirtschaftswissenschaftler Mehmet Altan, der fast drei Jahre in Haft gesessen hatte. Er schrieb in einem offenen Brief: Dem EGMR lägen 60 000 Fälle von Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen in der Türkei vor. Das Land stehe damit hinter Russland an vorderster Stelle. Der Volkswirt hatte 27 Jahre lang an der Istanbuler Universität gelehrt. Er saß wegen angeblicher Verwicklung in Putsch- und Terroraktivitäten bis 2019 im Gefängnis, seine Professur wurde ihm entzogen. Der EGMR hatte das Verfahren gegen ihn als unrechtmäßig beurteilt. Altan schrieb: "Ich weiß nicht, wie stolz Sie darauf sein wollen, Ehrendoktor einer Universität zu sein, die Hunderte Wissenschaftler mit falschen Behauptungen vom Lehrbetrieb ausgeschlossen und in Arbeitslosigkeit und Armut gezwungen hat." Er frage sich, wie Spanó die Ehrung überhaupt in Erwägung ziehen könne, wenn ein Teil der in der Türkei abgeurteilten Wissenschaftler "höchstwahrscheinlich eben diesen Gerichtshof demnächst anrufen wird". Mehmet Altan ist der Bruder des in Haft sitzenden Schriftstellers Ahmet Altan, der 2019 mit dem Münchner Geschwister-Scholl-Preis geehrt worden war. Nun erinnerte er daran, dass der EGMR den Fall seines Bruders "vordringlich" hatte prüfen wollen. Dies sei bisher nicht geschehen.

Aufsehen hatte jüngst der Hungertod der Anwältin Ebru Timtik erregt. Sie war als Verteidigerin von Mitgliedern einer linken Untergrundgruppe wegen Terrorvorwürfen verurteilt worden. Aus Protest war sie in den Hungerstreik getreten; sie verstarb nach 238 Tagen. Aytaç Ünsal, ein ebenfalls wegen Terrorvorwürfen verurteilter Anwalt, hungert seit 212 Tagen. Sein Zustand ist nach Angaben des Vaters lebensbedrohlich.

Nachdem jüngst ein Plakat mit dem Foto der verstorbenen Anwältin an der Fassade der Istanbuler Anwaltskammer aufgehängt worden war, drohte Präsident Erdoğan der Anwaltschaft. Wer im Verdacht stehe, Verbindungen zu Terrororganisationen zu haben, müsse mit Berufsverbot rechnen.

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