Menschenrechte:Gleichheit in der Defensive
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Dem Völkerrecht geht es nicht gut. Der Handel und einzelne Staaten werden besser geschützt als die Menschen. Sind Menschen- und Freiheitsrechte inzwischen zu einer hohlen Phrase verkommen?
Essay von Andreas Zielcke
Dass beim Treffen zwischen Donald Trump und Kim Jong-un nicht von Liberalität die Rede war, wundert nicht. In Nordkorea kann selbst der Diktator die mörderische Unterdrückung der Bürger nicht mit Freiheitsparolen übertünchen. Aber das ist die krasse Ausnahme, in den meisten Autokratien ist die Freiheitsrhetorik ein Herrschaftsinstrument.
Chinas KP betont bei Verhandlungen, auch aus Anlass des G-7-Gipfels, den Wert von "Freiheit, Offenheit und Multilateralismus". Vor der Präsidentschaftswahl in Venezuela prophezeite Nicolás Maduro: "Die Venezolaner werden der Welt eine Lektion in Demokratie und Freiheit erteilen." Die polnische Regierungspartei, die so zielstrebig den Rechtsstaat abbaut, führt den Namen "Recht und Gerechtigkeit". Geert Wilders ist Vorsitzender der niederländischen "Partei der Freiheit", Indiens hindu-nationalistischer Premierminister Narendra Modi beteuert vor der UN: "Wir verteidigen Recht und Freiheit jedes Bürgers."
Daher geht es nicht nur um die Fabrikation von Fake News, sondern ebenso von "fake rules", von vorgetäuschter Liberalität und Rechtstreue. Selbst im Vergleich zu getürkten Tatsachen ist die getürkte Freiheitsethik perfide, weil Herrscher, die ihr Regime unter die Maxime "Recht und Freiheit" stellen, auf zynische Weise anerkennen, wie überragend deren politische Rechtfertigungskraft ist. Man unterdrückt die Freiheit im Namen der Freiheit.
"Die Kraft des Rechts erodiert, die Empörung über Rechtsbrüche schwindet"
Und weil dies in so vielen Ländern passiert, beunruhigt immer mehr Leute die Frage, ob Menschen- und Freiheitsrechte inzwischen so schwach geworden sind, dass sie dort, wo es drauf ankommt, längst zur hohlen Phrase verkommen sind.
Die Liste der Symptome wird lang und länger: das Blutvergießen in Syrien, Afghanistan, in Jemen, im Sudan, in Libyen; die ethnischen oder religiösen Kämpfe im Irak, in Nigeria, Kamerun, Tschad, Niger, Somalia; die Drogenkriege in Mexiko und den Philippinen. Jeder dieser Konflikte offenbart auch das Versagen des Völkerrechts, gar nicht zu reden vom Krieg gegen den Irak im Jahre 2003, der Annexion der Krim, der einseitigen Aufkündigung des Iran-Atom-Deals oder von völkerrechtlichen "Altfällen" wie Tibet, Israel / Palästina, Kaschmir, den Uiguren, den Kurden, den Rohingya.
Und schließlich die wachsende Riege illiberaler Regime von Osteuropa, der Türkei, Ägypten bis China. Nach der jüngsten Studie der Bertelsmann-Stiftung leben derzeit über 3,3 Milliarden Menschen in undemokratischen Ländern, mehr als je seit Beginn der Erfassung. 40 Staaten bezeichnet die Studie als "hart autokratisch", weil sie "politische Opposition und Freiheitsrechte schon im Ansatz beschneiden".
Starke Indizien sprechen also dafür, dass in weiten Teilen der Welt, wie es ein Beobachter formuliert, "die Kraft des Rechts erodiert, die Empörung über Rechtsbrüche schwindet und immer mehr das Recht des Stärkeren dominiert".
Aber war es nicht das 20. Jahrhundert, das den Gipfel der Rechtlosigkeit, der Barbarei sah, von der wir trotz allem weit entfernt sind? Nicht zufällig sind daher besonders Völkerrechtler erheblich vorsichtiger. Doch selbst sie debattieren darüber, ob die Welt nicht in der Tat den Niedergang ihrer internationalen Rechtsstandards erlebt.
Inzwischen gilt sogar ein fatalistischer Schluss wie jener der amerikanischen Völkerrechtlerin Ingrid B. Wuerth, dass "das goldene Zeitalter der Menschenrechte vorbei ist", als seriöse Diagnose. Der verbreiteten dystopischen Grundstimmung in westlichen Gesellschaften gießt ein solcher Befund Wasser auf die Mühlen: Mit der Emanzipation geht es auf dieser Erde bergab.
Um den kritischen Diskurs des Westens wäre es jedoch schlecht bestellt, würde diesem pessimistischen Urteil nicht widersprochen werden. Am effektvollsten tut dies zurzeit der Kanadier Steven Pinker, der sich über sein Fachgebiet (Psychologie) hinaus als Evolutionstheoretiker einen Namen gemacht hat. Bereits mit seinem Bestseller "Gewalt: eine neue Geschichte der Menschheit" versuchte er zu belegen, dass die Menschheit entgegen der populären Sicht immer friedvoller wird. Diese These hat er jetzt noch radikalisiert.
Sein neues Buch "Enlightenment Now", (Viking Press), das im September auf Deutsch erscheinen wird, will nichts Geringeres als den Nachweis führen, dass die Aufklärung auch im globalen Maßstab siegt. Mit Aufklärung meint er vor allem das Quartett von "Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt". Trotz aller Tiefschläge und trotz aller um sich greifenden Resignation, die bereits - wie Pinker zitiert - den "Tod des Liberalismus" ausgerufen hat, steige die Menschheit auf der Zivilisationsleiter seit dem 18. Jahrhundert nach oben.
Auf Vernunft gegründete Institutionen setzten sich durch, Wissenschaftlichkeit sei die herrschende Erkenntnis- und Rationalitätspraxis geworden, humanitäre und pazifizierende Prinzipien seien auf immer breiterer Basis anerkannt.
Würde Pinker nur predigen und nur eine weitere Beschwörung der Kantischen Idee von Aufklärung und ewigem Frieden liefern, würde er nicht so viel Staub aufwirbeln. Über seine mangelhafte philosophische Kompetenz lässt sich mit guten Gründen lästern, nicht aber über seine empirischen Daten, seine Statistiken und Zeitdiagramme. Kein Skeptiker sollte sich auf den Niedergang der Emanzipation festlegen, bevor er sich nicht mit ihnen befasst hat.
Natürlich steht und fällt alles damit, ob und wie sich der behauptete strukturelle Fortschritt messen lässt. Beim Wohlstand, der Lebenserwartung, der Kindersterblichkeit, den Sozialausgaben oder auch bei der globalen Inklusion des Wachstums ist das kein Problem. Und diese materiellen Erfolge seit der industriellen Revolution sind ja wahrlich kolossal. Selbst der durchschnittliche Rückgang von Alltagsgewalt, begleitet von der zunehmenden Gleichstellung von Minderheiten, Frauen, Kindern, Homosexuellen und Andersgläubigen ist messbar, ein Aufwärtstrend schwer zu bestreiten. Zumindest das sind echte Humanitäts- und Freiheitserfolge, auch wenn noch viele weitere Erfolge nötig sind.
Ähnlich steht es um die Fortschritte durch die Verwissenschaftlichung. Allerdings fangen spätestens hier die Probleme mit Pinkers Optimismus an.
Denn beim gesellschaftlichen Einsatz der Wissenschaften und erst recht beim Gebrauch der "Vernunft" kann es, will man ihn statistisch erfassen, nur um politisch und moralisch neutralisierte Rationalitätsgewinne gehen. So ist etwa der Finanzmarkt, seit er mit komplexer Wahrscheinlichkeitsmathematik operiert, zweifellos viel "rationaler" als ehedem - aber ist er damit "vernünftiger" geworden (im Sinne einer gesteigerten Verantwortlichkeit gegenüber Gesellschaft und Realwirtschaft)?
Ebenso zweifellos war es im Kalten Krieg für die Großmächte politisch und spieltheoretisch am "vernünftigsten", angesichts des Gleichgewichts des Schreckens stillzuhalten - aber was war das für eine wahnwitzige Vernunft?
Nicht dass man Pinker aufhalsen müsste, das Problem menschlicher Vernunft zu lösen, doch sein forscher Aufklärungsoptimismus macht es sich zu leicht. Je rigider er den Fortschritt gegen alle Zweifel behauptet, desto mehr Problemzonen muss er ausblenden oder marginalisieren.
Typischerweise sind dies vor allem die Problembereiche, deren Schädigungspotenziale nur schwer zu berechnen sind, wie etwa Erosionen sozialer Bindung oder die politischen Folgen der zersplitterten digitalen Kommunikation. Oder etwa die Kehrseiten des entfesselten Kapitalismus, nicht zuletzt die Verluste an Teilhabechancen durch die explodierende ökonomische Ungleichheit; sie spielt Pinker geradezu provokativ herunter. Oder die sich ausbreitenden Kriechströme des Populismus und der Demokratieverachtung.
Niemand weiß, wie nachhaltig diese Kriechströme Offenheit und Liberalität verschleißen. Das widerlegt zwar nicht die Vermutung, dass der Respekt vor dem Recht weltweit im Niedergang begriffen ist, aber warnt vor allzu schneidigen Prognosen. Um daher den apodiktischen Optimismus genauso wie den apodiktischen Pessimismus zu vermeiden, richten Völkerrechtler den Blick direkt darauf, wie sich die internationale Rechtspraxis ändert.
Dabei tun sie sich selbst schwer, vor lauter Bäumen den Wald zu erkennen: Inzwischen gibt es mehr als 200 000 internationale Vereinbarungen, die in Kraft sind, und mehr als 37 000 internationale Organisationen.
Wie durch einen Big Bang ging dieses juristische Universum aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hervor. Auch wenn im Zentrum nach wie vor die Menschenrechtserklärung, die UN und der Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte stehen, zeigt diese gewaltige Menge an Verträgen und Agenturen, mit welcher phänomenalen Intensität die Welt auf Recht und rechtliche Vernetzung setzt.
Wenn jetzt Trump Strafzölle gegen die EU verhängt, kann Brüssel mit größter Selbstverständlichkeit vor der Welthandelsorganisation (WTO) klagen und zulässige Gegenmaßnahmen ergreifen. Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, wie ungleich Macht und Ohnmacht im internationalen Recht verteilt sind.
Sehen Staaten ihre Rechte verletzt, können sie mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg Sanktionen erzwingen. Sind die Opfer aber Individuen oder Minderheiten, bleiben selbst schlimmste Menschheitsverbrechen meist folgenlos, trotz der Interventionsrechte des UN-Sicherheitsrats, trotz des Internationalen Strafgerichtshofs, trotz aller humanitären Pakte und vor allem auch trotz der heute völkerrechtlich anerkannten "responsibility to protect", der Schutzverantwortung der Weltgemeinschaft für die Entrechteten.
Noch immer ist das internationale Recht de facto zuallererst ein Völkerrecht und nur sekundär auf Menschenrechte fokussiert. Nur Europa mit seinem durchaus wirkungsvollen Gerichtshof für Menschenrechte ist der versprochenen Zukunft ein Stück näher.
Wer also vom Niedergang des internationalen Rechts spricht, darf die Kluft zwischen Staaten- und Menschenrechten nicht übersehen. Aber es ist nicht nur traurigerweise so, dass das Weltrecht den Handel erheblich besser schützt als die Menschen. Und es ist auch nicht nur einfach so, dass technokratische Regeln weitaus effizienter durchgesetzt werden als humanitäre. Beides stimmt, aber was den Menschenrechten besonders zusetzt, ist ein Rückfall, der dem Populismus und dem religiösen Neofundamentalismus geschuldet ist.
Beide pervertieren das Gleichheitsprinzip. Nichts gegen die rechtliche Gleichheit, sagen Populisten, aber sie gilt nur für uns. Für unsere Gegner gilt eine andere Gleichheit. Wir sehen sie nicht als konkrete Individuen, sondern verallgemeinern sie zu einer Masse von äußerlich Gleichen: zu Muslimen ("no muslims here allowed", lautet die Kampfparole gegen die Rohingya), zu Juden, zu Schwarzen, zu Flüchtlingen.
Daran knüpfen sich konträre Rangordnungen der beiden Gleichheitslosungen. Was Populisten betrifft, kann jeder Volksgenosse dasselbe Gleichheitsrecht beanspruchen, ob Mann oder Frau, Bayer oder Friese. Für unsere Gegner aber rangiert die zugeschriebene ethnische oder religiöse Gleichheit an erster Stelle, das individuelle Gleichheitsrecht tritt zurück. Wir sind rechtlich gleich, ihr seid als Fremde gleich.
In diesem Kampf zweier unverträglicher Gleichheitsprinzipien ist die rechtliche Gleichheit, wie man sieht, vielerorts in der Defensive. Niemand, der auch nur eine Ahnung hat von der zivilisatorischen Leistung, die im Gleichheitsrecht liegt und ohne die keine Freiheit und kein Fortschritt denkbar ist, kann diesen Kampf nur als Zuschauer verfolgen.