Menschenrechte:Das Gleichgewicht des Schreckens war wahnwitzige Vernunft

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Natürlich steht und fällt alles damit, ob und wie sich der behauptete strukturelle Fortschritt messen lässt. Beim Wohlstand, der Lebenserwartung, der Kindersterblichkeit, den Sozialausgaben oder auch bei der globalen Inklusion des Wachstums ist das kein Problem. Und diese materiellen Erfolge seit der industriellen Revolution sind ja wahrlich kolossal. Selbst der durchschnittliche Rückgang von Alltagsgewalt, begleitet von der zunehmenden Gleichstellung von Minderheiten, Frauen, Kindern, Homosexuellen und Andersgläubigen ist messbar, ein Aufwärtstrend schwer zu bestreiten. Zumindest das sind echte Humanitäts- und Freiheitserfolge, auch wenn noch viele weitere Erfolge nötig sind.

Ähnlich steht es um die Fortschritte durch die Verwissenschaftlichung. Allerdings fangen spätestens hier die Probleme mit Pinkers Optimismus an.

Denn beim gesellschaftlichen Einsatz der Wissenschaften und erst recht beim Gebrauch der "Vernunft" kann es, will man ihn statistisch erfassen, nur um politisch und moralisch neutralisierte Rationalitätsgewinne gehen. So ist etwa der Finanzmarkt, seit er mit komplexer Wahrscheinlichkeitsmathematik operiert, zweifellos viel "rationaler" als ehedem - aber ist er damit "vernünftiger" geworden (im Sinne einer gesteigerten Verantwortlichkeit gegenüber Gesellschaft und Realwirtschaft)?

Ebenso zweifellos war es im Kalten Krieg für die Großmächte politisch und spieltheoretisch am "vernünftigsten", angesichts des Gleichgewichts des Schreckens stillzuhalten - aber was war das für eine wahnwitzige Vernunft?

Nicht dass man Pinker aufhalsen müsste, das Problem menschlicher Vernunft zu lösen, doch sein forscher Aufklärungsoptimismus macht es sich zu leicht. Je rigider er den Fortschritt gegen alle Zweifel behauptet, desto mehr Problemzonen muss er ausblenden oder marginalisieren.

Typischerweise sind dies vor allem die Problembereiche, deren Schädigungspotenziale nur schwer zu berechnen sind, wie etwa Erosionen sozialer Bindung oder die politischen Folgen der zersplitterten digitalen Kommunikation. Oder etwa die Kehrseiten des entfesselten Kapitalismus, nicht zuletzt die Verluste an Teilhabechancen durch die explodierende ökonomische Ungleichheit; sie spielt Pinker geradezu provokativ herunter. Oder die sich ausbreitenden Kriechströme des Populismus und der Demokratieverachtung.

Niemand weiß, wie nachhaltig diese Kriechströme Offenheit und Liberalität verschleißen. Das widerlegt zwar nicht die Vermutung, dass der Respekt vor dem Recht weltweit im Niedergang begriffen ist, aber warnt vor allzu schneidigen Prognosen. Um daher den apodiktischen Optimismus genauso wie den apodiktischen Pessimismus zu vermeiden, richten Völkerrechtler den Blick direkt darauf, wie sich die internationale Rechtspraxis ändert.

Dabei tun sie sich selbst schwer, vor lauter Bäumen den Wald zu erkennen: Inzwischen gibt es mehr als 200 000 internationale Vereinbarungen, die in Kraft sind, und mehr als 37 000 internationale Organisationen.

Wie durch einen Big Bang ging dieses juristische Universum aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hervor. Auch wenn im Zentrum nach wie vor die Menschenrechtserklärung, die UN und der Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte stehen, zeigt diese gewaltige Menge an Verträgen und Agenturen, mit welcher phänomenalen Intensität die Welt auf Recht und rechtliche Vernetzung setzt.

Wenn jetzt Trump Strafzölle gegen die EU verhängt, kann Brüssel mit größter Selbstverständlichkeit vor der Welthandelsorganisation (WTO) klagen und zulässige Gegenmaßnahmen ergreifen. Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, wie ungleich Macht und Ohnmacht im internationalen Recht verteilt sind.

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