Menschenrechte:"Barbarisches Verhalten"

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Der Fluss Evros ist die Außengrenze der EU. Haben türkische Militärs die Migranten gezwungen, ihn nackt zu überqueren? (Foto: Burak Kara/Getty Images)

Griechische Grenzschützer und Frontex-Beamte greifen nach eigenen Angaben 92 unbekleidete Menschen an der türkischen Grenze auf. Nun überhäufen sich Ankara und Athen gegenseitig mit Vorwürfen.

Von Tobias Zick, München

Was genau sich zwischen den Ufern des Flusses abspielt, der auf Griechisch Evros und auf Türkisch Meriç heißt, ist oft sehr schwer nachzuvollziehen. Weite Teile seiner Ufer sind militärisches Sperrgebiet, weder die türkischen noch die griechischen Sicherheitskräfte lassen sich von unabhängigen Beobachtern gern dabei zuschauen, was sie genau mit den Menschen tun, die versuchen, den Fluss zu überqueren - und damit die Außengrenze der Europäischen Union.

In dieses Informationsvakuum hinein stoßen beide Regierungen immer wieder mit gegenseitigen öffentlichen Anschuldigungen. Am Samstag erreichte der seit Jahren andauernde Schlagabtausch einen makabren Höhepunkt: Griechenlands Migrationsminister Notis Mitarakis twitterte ein Foto einer Gruppe nackter Männer auf einer etwas verdorrten Wiese, die Gesichter unkenntlich gemacht, die Männer im Vordergrund des Bildes bedecken notdürftig mit den Händen ihren Schritt. Man habe 92 Migranten an der Grenze aufgegriffen, schrieb der Minister dazu; das "Verhalten der Türkei" gegenüber diesen sei "eine Schande für die Zivilisation. Wir erwarten, dass Ankara den Zwischenfall untersucht und endlich seine Grenzen zur EU schützt".

Das griechische Zivilschutzministerium legte mit weiteren Details nach: Polizisten hätten die Menschen, die mehrheitlich aus Afghanistan und Syrien stammten, "in Zusammenarbeit mit Frontex" gerettet - der EU-Grenzschutzagentur. Sie seien nackt und ohne Gepäck gewesen, einige wiesen Verletzungen auf. Mehrere von ihnen hätten der griechischen Polizei und Frontex gegenüber angegeben, sie seien in türkischen Militärfahrzeugen zur Grenze gefahren worden, wo ihnen befohlen worden sei, sich auszuziehen und dann in Schlauchboote zu steigen. Der Zivilschutzminister Takis Theodorakis sagte in einem Fernsehinterview, es handele sich um "barbarisches Verhalten, das ans Mittelalter erinnert".

Ankara schoss umgehend zurück und beschuldigte Athen, die Nachricht erfunden zu haben: "Verbringt eure Zeit mit der Einhaltung der Menschenrechte, nicht mit Manipulationen und Unehrlichkeit", twitterte der türkische Vize-Innenminister Ismail Catakli am Samstagabend.

Auch gegen Frontex gibt es schwere Vorwürfe wegen Pushbacks

Eine Frontex-Sprecherin wiederum bestätigte am Montag den Vorfall; Beamte der Behörde hätten die griechischen Grenzschützer bei der Rettung der Menschen unterstützt. Man habe die Informationen über den Vorfall an den Frontex-Beauftragten für Grundrechte weitergeleitet. Nun sieht sich Frontex selbst in Erklärungsnot, nachdem der Spiegel vergangene Woche einen vertraulichen Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung veröffentlichte, in dem schwere Vorwürfe gegen den früheren Frontex-Chef Fabrice Leggeri erhoben werden. Demnach haben sich Frontex-Beamte unter Leggeris Führung etwa mehrmals direkt an sogenannten Pushback-Aktionen griechischer Grenzschützer beteiligt, bei denen Schutzsuchende etwa auf aufblasbaren Rettungsinseln in der Ägäis zurück in türkische Gewässer geschoben wurden.

Solche Pushbacks durch griechische Behörden, die gegen internationales Recht verstoßen, wurden auch von anderen Organisationen einschließlich der Vereinten Nationen dokumentiert. Athen weist derlei Vorwürfe regelmäßig kategorisch zurück und wirft der Türkei vor, Migranten als Druckmittel im Konflikt zwischen den beiden Ländern zu instrumentalisieren. Im März 2020 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Tausende Menschen an den Evros bringen lassen, unter dem falschen Versprechen, die Grenze zur EU sei offen. Griechische Sicherheitskräfte empfingen die hoffnungsfrohen Massen mit Tränengas und Gummigeschossen, Athen setzte das Asylrecht vorübergehend aus. Und Griechenland begann, einen Zaun entlang des Flusses massiv auszubauen. Kürzlich hat Athen verkündet, die bislang etwa 40 Kilometer lange Anlage um weitere 140 Kilometer zu verlängern.

Unterdessen setzen Athen und Ankara ihren Schlagabtausch um die Verantwortung für die 92 unbekleideten Männer fort. Erdoğans Chefsprecher Fahrettin Altun schrieb am Sonntag auf Twitter, die Anschuldigungen seien "haltlos und unbegründet"; vielmehr sei die "griechische Fake-News-Maschinerie wieder am Werk". Zudem zeige Griechenland "der ganzen Welt, dass es nicht einmal die Würde dieser unterdrückten Menschen achtet, indem es die Fotos der Flüchtlinge veröffentlicht, die es abgeschoben hat".

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Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat sich "zutiefst erschüttert" von dem Zwischenfall gezeigt und erklärt: "Wir verurteilen eine solch grausame und herabwürdigende Behandlung und fordern eine vollständige Untersuchung dieses Vorfalls." Nach UNHCR-Informationen sind unter den 92 Aufgegriffenen auch unbegleitete Minderjährige.

Der griechische Migrationsminister legte am Montag in einem Fernsehinterview nach und warf der türkischen Regierung vor, Migranten systematisch in die EU schleusen zu wollen, um angesichts der anstehenden Wahlen von den Problemen im eigenen Land abzulenken. Er werde den Vorfall, sagte Mitarakis, nächste Woche samt Foto- und Videobeweisen bei einem Besuch in New York dem Präsidenten der UN-Vollversammlung vorlegen.

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