Menschenkette gegen das Sowjetregime:15 Minuten Freiheit

Am 23. August 1989 - 50 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt - bildeten Millionen Balten eine Menschenkette gegen das Sowjetregime - und spürten erstmals die Macht der Straße.

Thomas Urban, Riga

Im Restaurant "Austrumu Robeza" in der Altstadt der lettischen Hauptstadt Riga posieren die Touristen gern neben den Bronzebüsten von Hitler und Stalin, die, gut sichtbar von der Straße, ganz offensichtlich Besucher anlocken sollen. Der Name heißt auf deutsch "Ostgrenze", die ganze Einrichtung soll, wie es in der Speisekarte heißt, "auf humane Weise den Totalitarismus ironisieren".

Menschenkette gegen das Sowjetregime: Der 23. August markiert aber einen Meilenstein auf dem Weg zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten.

Der 23. August markiert aber einen Meilenstein auf dem Weg zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten.

(Foto: Archiv-Foto: afp)

Nicht jedem Rigaer aber gefällt diese Art von Humor, vor allem dieser legere Umgang mit den beiden Massenmördern Hitler und Stalin. "Unsere Geschichte war viel zu tragisch, niemand sollte auf diese Weise Geschäfte machen", heißt es in einem Leserbrief an die Tageszeitung Diena.

Am 23. August vor siebzig Jahren unterzeichneten die beiden Außenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow in Gegenwart Stalins den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Somit machten sie nicht nur den Weg zu Hitlers Krieg frei, sondern schlugen auch das Baltikum dem vom Kreml kontrollierten Teil Osteuropas zu.

Das Anfang vom Ende

Das Datum 23. August markiert aber auch einen Meilenstein auf dem Weg zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten: An diesem Tag im Jahr 1989 bildeten mehr als anderthalb Millionen Menschen eine 678 Kilometer lange Menschenkette von der estnischen Hauptstadt Tallinn über Riga bis zum Südrand der damaligen Sowjetrepublik Litauen.

In den drei Hauptstädten ist man heute überzeugt, dass dies der Anfang vom Ende der Sowjetunion war.

Dabei war der damals 33-jährige Designer Aivars Urbans. Im Rückblick sagt er: "Ein Ruck ging durch unsere Länder, es herrschte eine euphorische Stimmung." Knapp beschreibt Urbans das Ziel der größten regimefeindlichen Demonstration, die die Sowjetunion je erlebt hat: "Wir wollten den Westen darauf aufmerksam machen, dass wir mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt unsere Freiheit verloren haben."

An diesem Wochenende ist er wieder dabei, wenn die Letten mit den Esten und Litauern zur Erinnerung an diese beispiellose Menschenkette vor zwanzig Jahren wieder auf die Straße gehen. Geplant ist ein 24-Stunden-Stafettenlauf: Je einen Kilometer haben die Läufer hinter sich zu bringen, dann werden die drei Landesfahnen, die sie tragen, an die nächste Gruppe weitergegeben. Zwei Stafetten starten gleichzeitig in den Hauptstädten Tallinn ganz im Norden und Vilnius ganz im Süden des Baltikums. Endpunkt des "Baltischen Laufs" ist das Freiheitsdenkmal in Riga, wo ein großes Volksfest stattfinden soll.

Die Menschen waren wehrlos

Dabei sollten die Menschen auch für ein Wochenende die Sorgen vergessen, die ihnen die Finanzkrise bereitet, sagt Urbans. "So schlecht wie damals kann es überhaupt nicht mehr werden", fügt er hinzu. Damals waren die Menschen wehrlos dem sowjetischen Behördenapparat ausgeliefert. Für den Rubel gab es nichts zu kaufen, die Menschen standen stundenlang Schlange vor den Geschäften. Die zaghaften Wirtschaftsreformen von Kremlchef Michail Gorbatschow griffen nicht, sondern verursachten noch mehr Chaos im ohnehin schwierigen Alltag.

Doch hatte Gorbatschow unter dem Schlagwort "Glasnost" den Medien begrenzte Freiheiten eingeräumt und sogar die ersten politischen Vereinigungen außerhalb der Kommunistischen Partei zugelassen. Die Esten, Letten und Litauer versuchten, ihn beim Wort zu nehmen.

Die Presse berichtete immer selbstbewusster von der Unterdrückung der drei Völker unter Stalin und seinen Nachfolgern, von den ungezählten politischen Morden und der Deportation Zehntausender. Als jede der drei Sowjetrepubliken ein neues Parlament, den Obersten Sowjet, wählte, setzten sich auch viele Vertreter der Demokratie- und Unabhängigkeitsbewegung durch.

"Wir begriffen, dass Moskau zunehmend die Kontrolle entglitt und man dort sehr nervös wurde", erinnert sich Urbans. Doch die Politiker im Baltikum, auch die Reformkommunisten, die zunehmend das Sagen hatten, reagierten besonnen. Sie versuchten erst gar nicht, die Debatte über den Ribbentrop-Molotow-Pakt zu unterbinden, sondern ließen es zu, dass die Medien in Tallinn, Riga und Vilnius für die Menschenkette zum 50. Jahrestag des Paktes warben.

Auch kommunistische Lokalpolitiker nahmen daran teil. Die Ordnungskräfte sicherten die Menschenkette und hielten für fünfzehn Minuten, als die Menschen auf diesen 678 Kilometern Hand in Hand standen, den Verkehr an. "Wir spürten auf einmal, dass wir zusammen stark waren und etwas bewegen konnten", sagt Urbans. Besonders wichtig sei gewesen, dass auch viele der dort lebenden Russen, vor allem jüngere, das Anliegen der Balten unterstützt hätten.

Parallelen, die ewig bleiben

In Moskau begriff man spät, welche Sprengkraft von dieser Demonstration ausging. Anfangs hatte man die Balten nicht recht ernst nehmen wollen, sie machten ja zusammen nicht einmal sechs der mehr als 200 Millionen Sowjetbürger aus. Dass die Proteste gegen den Ribbentrop-Molotow-Pakt sich direkt gegen die Sowjetherrschaft im Baltikum richteten, verstand man erst, als in den drei Hauptstädten immer öfter die verbotenen Flaggen der Zwischenkriegszeit geschwenkt wurden. Dass diese untersagt waren, können sich die jungen Leute kaum noch vorstellen, die in Riga den "Baltischen Lauf" an diesem Wochenende planen.

Stolze Eurorussen

Ihre drei Länder gehören heute der Nato und der EU an. "Für uns war das unvorstellbar", sagt Urbans. Umfragen belegen, dass auch die Finanzkrise, die in Lettland zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistungen um etwa zwanzig Prozent geführt hat, die Zustimmung zu den westlichen Bündnissen nicht gemindert hat, auch nicht unter der russischsprachigen Bevölkerung. Namentlich die Jungen bezeichnen sich stolz als "Eurorussen". In Riga gibt mehr als die Hälfte der Einwohner Russisch als Muttersprache an, sie stellen auch den Bürgermeister.

Die Aktivisten von damals wollen der jungen Generation auch vermitteln, dass diese zwanzig Jahre seit der großen Menschenkette trotz Finanzkrise zwar heute wie eine beispiellose Erfolgsgeschichte aussehen, dass die Wiedererlangung der Unabhängigkeit aber keineswegs reibungslos verlief. Im Gegenteil: In Riga und in Vilnius kamen zwei Dutzend Demonstranten um, als Sondereinheiten des KGB die Parlamente stürmen und die Demokratiebewegung zerschlagen wollten.

Bis heute ist in den drei Ländern die Debatte über die damalige Rolle Gorbatschows nicht verstummt. Wollte er mit Gewalt die Sowjetunion zusammenhalten und die Parteiherrschaft erhalten? Oder konnte er den Falken in der Parteiführung nicht Einhalt gebieten, die ihn mit den Aktionen im Baltikum im Westen in Misskredit bringen wollten?

Dass viele Westdeutsche den "guten Gorbi" bis heute verehren, versteht man in Riga nur wenig. Und dass Deutsche und Russen nun eine Gaspipeline durch die Ostsee bauen, die das Baltikum ausspart, lässt manche Politiker und Publizisten an die Geheimabsprachen denken, die Ribbentrop und Molotow vor siebzig Jahren trafen. "Diese Parallele werden wir immer im Hinterkopf haben", sagt auch Urbans.

Und einer der jungen Computerexperten, die an der Webseite für den "Baltischen Lauf" mitarbeiteten, zeigt in einer Kaffeepause im "Austrumu Robeza" auf die Bronzebüsten Hitlers und Stalins: "Wir sollten sie als ewige Mahnung an alle Europäer betrachten."

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