Menschen mit geistiger Behinderung:Keine Wahl in Bruckberg

Das fränkische Bruckberg war 2005 der Ort mit der geringsten Wahlbeteiligung Deutschlands. In der 1330-Einwohner-Gemeinde leben fast 500 geistig behinderte Menschen.

Tanja Schwarzenbach

Kurt Stark wird mit seinem Rollstuhl hinfahren. Thomas Graf geht zusammen mit seinem Vater. Kevin Neuner hofft, dass er daran denkt. Und Manfred Herbst überlegt, was "wählen" bedeutet - das Wählen einer Telefonnummer?

Alle vier sind Menschen mit geistiger Behinderung und fast alle haben eine Meinung zur Politik und zur Bundestagswahl: "Frau Merkel redet gescheit daher, aber ändern tut sie nichts. Ich bin mir sicher, dass sie wieder abgewählt wird." - "Ich wähle die SPD!" - "Ich möchte, dass Hartz IV wieder abgeschafft wird." Nur Manfred Herbst: Er denkt immer noch nach. Den Zeigefinger am Mund, die Augen freundlich auf sein Gegenüber gerichtet. Er hat das Down-Syndrom und fortgeschrittene Demenz.

Alle vier wohnen in Bruckberg, einem Ort in Mittelfranken, der bei den Bundestagswahlen 2005 die geringste Wahlbeteiligung Deutschlands hatte. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass die Bruckberger politikverdrossen sind - sondern, dass in der 1330-Einwohner-Gemeinde fast 500 Menschen mit geistiger Behinderung leben. Doch nur 40 davon haben bei den vergangenen Bundestagswahlen gewählt.

Ungewöhnliche Idylle

Bruckberg, das ist Apfelbaumidylle, das sind Holzbalkone und üppige Geranien. Bruckberg, das sind aber auch Wohnheime der Behindertenhilfe Diakonie Neuendettelsau, die sich über den ganzen Ort verteilen. Das Hauptgebäude, eine Schlossanlage mit großem Park, erwarb die Diakonie bereits im Jahr 1891. Nicht immer ging man mit den behinderten Menschen so offen um wie heute. Die Anlage hatte schon Zäune, Schranken und Pforten, man sperrte die Menschen ein und aus dem Bewusstsein der Bruckberger aus.

Heute, sagt die Bürgermeisterin Anna-Maria Wöhl, gehören die Menschen mit Behinderung zum "Stadtbild". Einige Bruckberger sind, obwohl nicht verwandt, gesetzliche Betreuer von Heimbewohnern. Und man kann hier herzlich darüber lachen, dass bei den vergangenen Bundestagswahlen ein Heimbewohner und Fan von Renate Schmidt (SPD) im Wahllokal auf eine Frau mit dunklen Haaren zusteuerte und fragte, ob sie die Renate sei. Es war aber eine Dame von der CSU. Das Gackern ist groß, wenn jemand diese Anekdote erzählt.

Im Allgemeinen geht man hier sensibel mit den Heimbewohnern und ihren Bedürfnissen um. Vielleicht zu sensibel, wenn es sich um die Frage handelt, ob Wahlkampf und politische Diskussionen die Heimbewohner möglicherweise manipulieren könnten. Denn die Folge ist, dass die geistig behinderten Menschen, von denen 360 wahlberechtigt sind, nicht die Informationen bekommen, die sie benötigen, um eine Wahlentscheidung zu treffen - obwohl im Ort der Politikzirkus längst begonnen hat.

Die CSU dominiert

In Bruckberg gibt es nur einen CSU-Ortsverband. Jener der Freien Wähler befindet sich gerade in der Auflösung und sein Vorsitzender räumt ein, selbst nicht die Freien Wähler zu wählen. Doch haben es sich die Verbände anderer Orte nicht nehmen lassen, auch in Bruckberg Plakate aufzuhängen. Und so lächeln von den Mauern, Säulen, Laternen der Gemeinde auch Kandidaten der SPD, FDP, ÖDP und der Linken.

Natürlich steht es den meisten Heimbewohnern frei, durch Bruckberg zu spazieren, etwa die Alte Poststraße entlang, deren Gehwege extra breit ausgebaut wurden, und sich die Plakate anzusehen. Je nach geistigem Behinderungsgrad gibt es aber Erklärungsbedarf. Das trifft auch auf Beiträge im Fernsehen, Radio, Internet oder in der Zeitung zu - theoretisch können sich die Heimbewohner dort über Politik informieren, doch verstehen sie nicht unbedingt, was die Politiker mit ihren komplizierten Sätzen meinen.

Kevin Neuner, ein aufgeweckter junger Mann und Erstwähler, sieht sich gerne mal die "Tagesschau" an und begreift das meiste. Doch Manfred Herbst, früher im Heimbeirat und politisch aktiv, wundert sich immer noch, was wählen bedeutet: "Manfred", sagt Martin Piereth, Pädagoge und Koordinator der Bruckberger Heime, "uns geht's nicht ums Telefon!"

Schwierige Fragen

Erklärungen wie diese sind neutral. Doch was, wenn ein Heimbewohner Rat sucht und fragt, wie es schon geschehen ist, "Und was machen die Grünen? Findest du die gut?" Darf man dann politisch Stellung beziehen und mit den Heimbewohnern diskutieren - oder ist das schon Beeinflussung?

Werner Mayer, Ortsvorsitzender der Freien Wähler, findet, dass es nicht Aufgabe der Parteien ist, Heimbewohnern derartige Fragen zu beantworten. Denn dem hafte immer der Ruch von Manipulation an.

Martin Piereth meint, dass das auch nicht Sache des Heims sein darf. Das Heim müsse, ganz im Gegenteil, politisch neutral bleiben. Die Mitarbeiter werden deshalb angehalten, die Heimbewohner nicht zu beeinflussen. Es ist auch deshalb Vorsicht geboten, weil die Diakonie der größte Arbeitgeber in Bruckberg ist und es Zeiten gab, da mindestens eine Person aus jedem Haushalt in der Behindertenhilfe gearbeitet hat - einige aber gleichzeitig in Parteien aktiv sind.

Wie, fragt Hans Ehret, stellvertretender CSU-Ortsvorsitzender, kann man da ausschließen, dass nicht mal ein Mitarbeiter sagt: "Wähl die SPD, da machst du nichts verkehrt"? Hilfestellung leistet das Heim nur mit dem Wählen an sich: Die Erwachsenenbildung bietet Kurse an, in denen den Heimbewohnern grob erklärt wird, welche Parteien es gibt, vor allem aber, wie sie ihr Kreuz im Wahllokal, der Bruckberger Schule, oder per Briefwahl setzen können.

Behinderte "inkludieren"

Die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen, die Deutschland dieses Jahr ratifizierte, hat zum Ziel, Menschen mit Behinderung nicht nur in das gesellschaftliche und politische Leben zu integrieren, sondern sie daran teilhaben zu lassen, sie zu "inkludieren", sie also normal zu behandeln. Wäre es nicht normal, mit den Heimbewohnern auch über Politik zu sprechen und sie in den politischen Wahlkampf mit einzubeziehen?

CSU-Politiker Hans Ehret sitzt bei Zithermusik in der "Alten Braustube" und zuckt bei dieser Frage mit den Schultern. Er ist vorsichtig, wenn es um den Vorwurf der Beeinflussung geht. Andererseits: "Uns als Ortsverband wäre es schon recht, wenn ein großer Politiker kommt und seine Bereitschaft für Behinderte zeigt." Früher sei sein großer Wunschtraum gewesen, Franz Josef Strauß wäre mal vorbeigekommen. Doch der hat sich in Bruckberg nie blicken lassen. Knapp 400 wahlberechtigte Heimbewohner in Bruckberg seien eine Menge Stimmen, sagt Ehret. Insgesamt leben in Deutschland etwa 450.000 Menschen mit geistiger Behinderung. Wahlberechtigt ist grundsätzlich jeder von ihnen - sofern er keine Vollbetreuung, also eine Betreuung in allen Lebensbereichen benötigt.

Die CDU, aber auch die Grünen und die SPD, haben sich deshalb auf Bundesebene die Mühe gemacht, ihr Wahlprogramm in leichte Sprache zu übersetzen. Wie es auf der Webseite eines Direktkandidaten der Grünen heißt, profitierten auch Hauptschüler und Senioren davon. Geduld müssen die Leser zeigen können - denn das abgespeckte Wahlprogramm umfasst 46 Seiten, jenes von SPD und CDU jeweils 24 und 36.

In Bruckberg allerdings weiß man von diesen Broschüren nichts. Und selbst wenn: In den meisten Fällen bräuchte es jemanden, der den Heimbewohnern auch das Wahlprogramm in einfacher Sprache ergänzend erklärt.

Pädagoge Piereth sagt, dass die gesetzlichen Betreuer, die nahezu jeder Heimbewohner für unterschiedliche Lebensbereiche hat, mitverantwortlich für die Aufklärung sind. Doch legen die Betreuer ihre Pflichten unterschiedlich aus. Manche leisten politische Hilfestellung, andere sind politisch uninteressiert, manche wohnen zu weit weg, um etwas persönlich erklären zu können.

Das Problem dreht sich immer schön im Kreis wie ein Karussell.

Manfred Herbst aus dem Heim hat inzwischen verstanden, worum es beim Wählen und der Bundestagswahl geht. Er wählt die SPD. Warum? "Weil ich sie liebe."

So einfach sind manche Entscheidungen.

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