Rang 5: Bibi Aisha (2442 Punkte bei 869 Stimmen, es konnten bis zu vier Punkte vergeben werden)
Bibi Aisha ist eine schöne Frau mit dunklen Augen und vollen Lippen. Wahrscheinlich war auch ihre Nase schön. Doch ein Loch klafft im Gesicht der 19-Jährigen. Ihre Geschichte ist eine afghanische: voller Gewalt. Doch es ist auch die Geschichte einer Frau, die sich nicht brechen ließ, trotz allem. Und es ist die Geschichte der Instrumentalisierung dieser starken Frau. Denn das Bild von Bibi Aisha ging um die Welt, als es das Time-Magazin auf dem Titel druckte, versehen mit der umstrittenen These: "Was passiert, wenn wir Afghanistan verlassen". Keine Frage. Eine Feststellung.
Bibi Aisha, die in Wirklichkeit anders heißt, wurde als Kind einem Taliban-Kämpfer geschenkt, um dessen Gelüste nach Blutrache zu stillen. Ein Onkel von Bibi Aisha hatte jemanden aus dem anderen Clan getötet. Um den Kreislauf der Gewalt zu stoppen, sollte das Mädchen leiden - für sie ging die Gewalt weiter. Als Jugendliche musste sie den Mann aus dem verfeindeten Clan heiraten und für seine Familie wie ein Sklavin schuften. Trotz Misshandlungen und Verachtung brachte sie den Mut auf und floh - doch die junge Frau wurde zum Clan zurückgebracht. Der zerrte sie vor ein Taliban-Gericht.
Der Richter urteilte, die unfreiwillige Ehefrau habe Schande über die Familie gebracht. Für diesen Gesichtsverlust durfte der Ehemann Rache nehmen. Er rächte sich furchtbar. Der Mann schleppte die junge Frau in die Berge, schnitt ihr die Ohren ab und die Nase aus dem Gesicht und ließ sie zurück zum Sterben. Doch Bibi Aisha gab nicht auf, sie schleppte sich fort, bis sie Hilfe fand. Schutz fand sie in Kabul, im Frauenhaus der Organisation "Women for Afghan Women". Damit endet die private Geschichte der Bibi Aisha, die stellvertretend für zahlreiche unterdrückte Frauen steht, denen Männer Gewalt antun. Nun beginnt die öffentliche Geschichte der jungen Frau.
In das Schutzhaus kam die Fotografin Jodi Bieber und porträtierte die Frau ohne Nase für das US-Magazin Time, das Bibi Aisha auch das Pseudonym gab. Die junge Afghanin wusste zwar, dass ihr Foto auf ein Cover sollte, kannte aber das Time-Magazin nicht einmal. Aber ihre Geschichte wollte sie erzählen - und hoffte auf eine neue Nase. Doch andere Fotoikonen aus der Vergangenheit, wie das Foto der schreienden, von Napalm verbrannten Kinder in Vietnam, zeigten Gräuel des Krieges und sollten dazu beitragen, die Kämpfe zu beenden. Doch die Time-Redaktion rief neben diesem neuen Bild zu einer Fortsetzung eines Krieges auf: Das passiert, wenn wir Afghanistan wieder den Taliban überlassen, lautete die Nachricht in einer Zeit, in der die Amerikaner immer kriegsmüder wurden. Darf man das, für einen Krieg werben, das Leid instrumentalisieren?
Hier würden Frauenrechte als Kriegsgrund missbraucht, wüteten Kritiker. Anderer Meinung ist Manizha Naderi, Vorsitzende der Organisation, die Bibi Aisha Obdach gab: Erst seit die internationalen Truppen im Land seien, gebe es wieder Mädchenschulen in Afghanistan und sogar Frauen im Parlament. Würden die Streitkräfte ein schwaches Land den Taliban überlassen, wären Frauen in allen Teilen Afghanistans so ausgeliefert, wie es Bibi Aisha war. Die junge Frau ist froh, dass sie in den USA eine Prothese erhielt, eine künstliche Nase verdeckt nun das Loch in ihrem Gesicht. Nun wartet auf Bibi Aisha das, was sie durchhalten ließ: ein Leben in Freiheit. Und hoffentlich ohne Gewalt.
Katja Schnitzler