Süddeutsche Zeitung

Polizeigewalt in den USA:In drei Minuten zu Tode geprügelt

Fünf Polizisten werden beschuldigt, in Memphis einen 29-Jährigen getötet zu haben - nun sind Videos öffentlich, die den Einsatz zeigen. Sowohl die Beamten als auch das Opfer sind Afroamerikaner, was die Diskussion verkompliziert.

Von Fabian Fellmann, Washington

Schon wieder beginnt ein Text über den Tod eines jungen Afroamerikaners mit den Worten "schon wieder". Das Opfer ist diesmal Tyre Nichols, ein 29-jähriger FedEx-Angestellter in Memphis, Vater eines kleinen Jungen, begeisterter Skateboarder und treuer Starbucks-Kunde, ein Amerikaner wie viele andere auch.

Nichols ist vor zwei Wochen im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen, die ihm fünf Polizisten nach einer Verkehrskontrolle beigefügt hatten, 100 Meter vom Haus seiner Mutter entfernt, wo er täglich zum Abendessen war. Ihren Namen trug Nichols als Tattoo auf seinem Arm. Was genau vorgefallen ist, ist bisher nicht restlos geklärt.

Nun werden die fünf beteiligten Polizisten beschuldigt, Nichols nach einem Fluchtversuch gestellt und drei Minuten lang mit Fußtritten, Polizeigriffen, Taser und Pfefferspray misshandelt zu haben. Sie sind unter anderem des Totschlags und des Kidnappings angeklagt. Untersucht wird überdies das Verhalten zweier Rettungssanitäter, die Nichols anschließend versorgt hatten.

Er starb im Krankenhaus, wegen starker Blutungen

Drei Tage lang lag der Mann dann im Krankenhaus, bevor er starb, laut den Anwälten der Familie wegen starker Blutungen. Die Polizisten hätten ihn traktiert wie eine "menschliche Piñata", sagte einer der Rechtsvertreter. Piñatas sind lateinamerikanische Papierfiguren, die mit Süßigkeiten gefüllt sind. Sie werden von Kindern so lange mit Stöcken geschlagen, bis sie aufplatzen und ihren Inhalt freigeben.

Nun wurden am Freitagabend mehrere Videos des Polizeieinsatzes veröffentlicht. Darin ist zu sehen, wie Nichols bei der Kontrolle zu Boden gedrückt wird, wie er mehrmals zu den Polizisten sagt, sie sollten aufhören. Schließlich reißt er sich los und flieht zu Fuß. Der Versuch eines Beamten, ihn mit einem Elektroschocker aufzuhalten, schlägt fehl, Nichols wird schließlich an einer Straßenkreuzung gefasst. Mehrere Beamte halten ihn fest, während ihn andere brutal mit Fäusten und einem Schlagstock schlagen. Nichols stöhnt und jammert, er ruft laut nach seiner Mutter. In einer anderen Einstellung ist zu sehen, wie zwei Polizisten seinen Oberkörper hochhalten, während ihm ein dritter Beamter gegen den Kopf tritt. Danach schleifen sie den schwer Verletzten zu einem Einsatzfahrzeug und lehnen seinen Oberkörper gegen die Seite des Wagens.

Die Bilder seien verstörend, lautet das einhellige Urteil von Opferfamilie, Polizeichefin und Aufsichtsbehörde des Staates Tennessee. Sogleich wurden Parallelen gezogen zu Rodney King: Er war 1991 auf seinem Motorrad in Los Angeles von Polizisten angehalten und blutig geschlagen worden. Das Video der Schandtat löste monatelange Unruhen und gewalttätige Ausschreitungen aus.

Black Lives Matter reagiert zurückhaltend

Auf gewaltsame Proteste haben sich die Behörden im ganzen Land auch diesmal vorbereitet. In Memphis etwa sagten die Schulen sämtliche Freizeitaktivitäten am Freitagnachmittag ab, um die öffentliche Sicherheit nicht zu gefährden. In Los Angeles befürchteten die Sicherheitskräfte ebenfalls gewalttätige Demonstrationen. Ebenso in Atlanta, wo schon am vergangenen Wochenende ein Streifenfahrzeug in Brand gesetzt wurde, nachdem ein Polizist zuvor bei einem Protest gegen den Bau eines neuen Polizeizentrums einen 26-jährigen Aktivisten erschossen hatte.

Allerdings sind die Demonstrationen gegen Nichols Tod in Memphis bisher weitgehend ruhig geblieben, auch nach der Veröffentlichung des Videos. In Memphis blockierten Demonstranten am Abend friedlich eine Autobahn. Auch Aktivisten von Black Lives Matter haben sich bisher zurückhaltend zu dem Vorfall geäußert. Die Organisation hatte nach dem Tod von George Floyd 2020 monatelang Proteste organisiert, die in vielen Städten in Gewalt ausarteten. Diesmal aber ist nicht nur das Opfer ein Afroamerikaner, auch alle fünf Polizisten sind es. Und sie sind zwischen 24 und 32 Jahre alt, somit auch in derselben Altersgruppe wie Nichols.

Umgehend warfen überwiegend weiße Nutzer der sozialen Medien afroamerikanischen Aktivisten vor, selbst rassistisch zu handeln, indem sie Gewalt weißer Polizisten anders beurteilten als solche dunkelhäutiger Polizisten. Gegen diese vereinfachende Darstellung wehrten sich indes afroamerikanische Bürgerrechtlerinnen wie Amber Sherman: Die Hautfarbe der Polizisten spiele keine Rolle; das aktuelle System der Polizeiarbeit führe dazu, dass Afroamerikaner häufiger kontrolliert und umgebracht würden.

Im laufenden Jahr sind bereits 79 Menschen in den USA durch Polizisten getötet worden gemäß einer Erhebung der Washington Post. Jährlich sind es mehr als 1000, Tendenz steigend, obwohl bereits seit der Misshandlung von Rodney King vor 32 Jahren darüber diskutiert wird, wie exzessive Brutalität der Polizei gestoppt werden könnte.

US-Präsident Joe Biden sagte am Abend, er habe das Video gesehen und sei schockiert. Er habe mit Nichols' Familie telefoniert und sein Beileid ausgedrückt. Der Vorfall erinnere an die tiefe Angst, das Trauma, den Schmerz und die Erschöpfung, die viele schwarze Amerikaner und Amerikanerinnen jeden Tag verspürten.

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