Meine Presseschau:"Wir werden Angela Merkel nachtrauern"

Matthias Drobinski

Matthias Drobinski ist Redakteur im Ressort Meinung.

Die europäischen Zeitungen bewerten die Rückzugsankündigung der Kanzlerin als Zäsur.

Von Matthias Drobinski

War Angela Merkels Rückzugsankündigung souverän? Wahrt sie die letzte Chance auf einen anständigen Abgang - oder hat sie diese Chance verpasst? So unterschiedlich die Kommentatoren der europäischen Zeitungen den Schritt der Bundeskanzlerin bewerten, so sind sie sich doch einig: Dies ist eine Zäsur für ganz Europa. Die Londoner Times befürchtet Schlimmes: Ihr "langer Abschied", heißt es, "läutet eine Periode der Instabilität in der größten Volkswirtschaft Europas ein. Der Machtkampf um ihre Nachfolge wird wahrscheinlich chaotisch." Der Guardian meint, Merkel sei an der Flüchtlingspolitik gescheitert; ihre "liberale und pragmatische Haltung" habe "Konsequenzen mit sich gebracht, die sie nicht gemeistert hat". Ihr Nachfolger werde, um "unserem verängstigten Kontinent wieder Zuversicht zu geben, aus ihren Stärken wie aus ihren Schwächen lernen müssen".

Der Schweizer Tagesanzeiger findet, die deutsche Kanzlerin habe einen "Befreiungsschlag in letzter Minute" geschafft; "anders als Konrad Adenauer und vor allem Helmut Kohl kam Merkel damit einem demütigenden politischen Ende knapp zuvor." Die Neue Zürcher Zeitung geht dagegen hart mit Merkel ins Gericht: Mit ihrer Entscheidung, vorerst Kanzlerin zu bleiben, habe sie die "Chance eines glanzvollen Abgangs endgültig verpasst". Der Verzicht auf das Parteiamt sei nur ein "Blitzableiter", er solle helfen, dass "die Grand Old Lady im Kanzleramt noch drei Jahre lang weiter die Fäden zieht". Die russische Zeitung Iswestija findet gerade das clever: Merkels Schritt sei "der notwendige Kompromiss, um ihr für die kommenden Jahre den Posten der Kanzlerin zu sichern".

Viele Kommentatoren in Europa meinen, dass die deutsche Kanzlerin in der europäischen Politik fehlen werde. "Der Rückzug von Angela Merkel wird nicht nur die deutsche Politik in Mitleidenschaft ziehen", urteilt die spanische Zeitung El Mundo. Sie habe standhaft jene Werte verteidigt, "die Europa zu einem der Räume der demokratischen Welt mit dem größten Wohlstand und Fortschritt" gemacht haben; ihr Rücktritt sei "eine schlechte Nachricht für die Europäische Union". Die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza schreibt sogar: "In Deutschland hat in der jüngsten Geschichte noch kein Polen so wohlgesonnener Politiker regiert" und fragt: "Wird ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger genauso sensibel auf polnische Angelegenheiten eingehen?"

Der italienische Corriere della Sera windet der allmählich scheidenden Kanzlerin geradezu einen Kranz: "Wir werden Angela Merkel nachtrauern. Die Deutschen, die sie seit 2005 als Kanzlerin hatten, haben die schlimmste Wirtschaftskrise eines Jahrhunderts unbeschadet überstanden. Und wir Europäer, die ihr Zögern erlebt haben, aber auch ihre Fähigkeit, immer das Richtige zu machen, wenn es angebracht war und es keine Alternative gab: Sei es die Griechenlandkrise oder die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Jetzt, wo ihre Dämmerung begonnen hat, zeichnet sich Merkel als historischer Gigant in diesem Stückchen des Jahrtausends ab."

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