Meine Presseschau:Von Stolz und Urteil

Ganz Washington sucht den Verfasser des Gastbeitrags in der New York Times, der diese Woche mit dem Präsidenten abgerechnet hat. Uneinig sind sich die US-Medien in der Frage, ob diese Art des Widerstands sinnvoll, zielführend oder bloß Befriedigung der Eitelkeit des Autors ist.

Von Alan Cassidy

In Washington ist eine Jagd im Gang: Wer steckt hinter dem anonymen Gastbeitrag in der New York Times, in dem ein Offizieller aus der US-Regierung diese Woche mit dem Präsidenten abgerechnet hat? Frenetisch suchen die Journalisten und das Weiße Haus nach dem Verfasser. Paul Ryan, Fraktionschef der Republikaner im Repräsentantenhaus, schlug sogar den Einsatz eines Lügendetektors vor. Mehr als zwei Dutzend Mitglieder der Administration haben bereits beteuert, sie seien es nicht gewesen. Trump ließ sich die Dementis angeblich vorlegen, und der Chefredakteur von Politico twitterte: "Du bist ein Nobody in Washington, wenn du nicht schon abstreiten musstest, den Gastbeitrag geschrieben zu haben."

Bis der Autor enttarnt ist (und das erscheint unvermeidlich), läuft in den Medien die Debatte darüber, was von dessen Absichten zu halten ist. Von links bis rechts gibt es dabei so etwas wie einen Konsens: Besonders hehr können die Motive nicht gewesen sein. Die konservative, aber Trump-kritische Zeitschrift National Review fasst zusammen: Wenn der Gastbeitrag der Wahrheit entspreche, dann würden in der Administration Leute sitzen, die glaubten, dass Amerika von einem instabilen und ungeeigneten Mann geführt werde. "Und trotzdem finden diese Leute, dass nicht einmal ein nationaler Ernstfall das Risiko für Karriere und Ruf rechtfertigt, das mit einem Rücktritt und einer öffentlichen Stellungnahme einhergeht."

Für Republikaner, die sich um ihr Land sorgten, gäbe es viele legitime Wege, Trump in Schach zu halten, schreibt die National Review weiter - vor allem über den Kongress. "Aber so wie der Autor dieses Gastbeitrags sind die Republikaner dort zu feige, um dem Präsidenten geradeheraus zu widersprechen." Ähnlich sieht das der linksliberale New Yorker. Dort stellt Kommentatorin Susan Glasser den Times-Gastbeitrag in eine Reihe mit den anonymen Quellen aus dem Inneren der Regierung, die Bob Woodward als Grundlage für sein Buch dienen, das diese Woche Schlagzeilen machte. "Es geht hier mindestens so sehr um Egos und Eitelkeit wie um Patriotismus und Prinzipien."

Die britische Financial Times sieht ebenfalls keinen Aufstand der Anständigen am Werk, keinen selbstlosen Kampf für die Demokratie, sondern: "Das sieht mehr nach dem Versuch aus, einen Buchvertrag für die Zeit nach dem Weißen Haus zu erhalten." Einen Gegenpunkt zu dieser verbreiteten Kritik setzt das Online-Magazin Vox, das ebenfalls im linken Spektrum anzusiedeln ist. Es sei unfair, die Trump-kritischen Kräfte in der Regierung als feige Kollaborateure hinzustellen. Diese stünden nun einmal vor einer "schrecklichen Wahl": "Sie können bleiben und ihr Bestes tun, um Trump zu unterlaufen, wo sie können. Oder sie können gehen und zulassen, dass er sich mit Kumpanen und Kopfnickern umgibt." Dann, schreibt Vox, bestehe das Risiko, dass die amerikanische Demokratie irreparablen Schaden nähme, dass es zu einem Krieg käme oder zu einer Weltwirtschaftskrise. Das Fazit: "Lieber ein schwacher Widerstand als gar keiner."

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