Süddeutsche Zeitung

Meine Presseschau:Vom Drama zur Bedrohung

Die Brexit-Wirren faszinieren nicht nur die britischen, sondern auch die ausländischen Zeitungen. Von einem "Coup" ist gerade die Rede - und von einem "Grab für die Demokratie".

Von Cathrin Kahlweit

Das Brexit-Projekt, das auch unter Brexit-Wahnsinn oder Brexit-Chaos firmiert, dominiert seit mehr als drei Jahren nicht nur die nationale Debatte in Großbritannien, sondern findet auch intensiven Niederschlag in europäischen Medien. Es scheint, als könnten Leser auf dem Kontinent gar nicht genug davon bekommen zu erfahren, was der EU-Ausstieg mit dem Land macht, wie sich Gesellschaft und Politik dabei zerlegen und wie das schwierige Experiment die EU als Institution und Europa als Idee verändert.

Auch der flamboyante Ex-Außenminister Boris Johnson hat in der EU schon Schlagzeilen gemacht; seit er Premier ist und einen radikalen Kurs fährt, ist die Neugier noch gewachsen. Nun will Downing Street das Parlament in eine ungewöhnlich lange Zwangspause schicken. Die emotionale Schärfe und kommentierende Eindeutigkeit, mit der viele Medien auf ihren Titelseiten diesen Überraschungscoup meldeten, belegt dabei einmal mehr, wie passioniert Europa den Prozess verfolgt. De Morgen aus Belgien zeigt das Foto eines Demonstranten, der "ein Grab für die Demokratie gräbt" und spricht von einem "britischen Coup".

Dem schließt sich der ebenfalls belgische Standaard mit der Titelzeile an, Johnson setze für einen harten Brexit "alles auf eine Karte". Libération aus Frankreich nennt seine Taktik "härter und immer härter" und informiert die Leser, dass der Premier dem Parlament einen Maulkorb verpasst habe. ABC aus Spanien übernimmt auf spielerische Weise ein Cover der legendären Sex Pistols zu ihrem Song "God Save The Queen". Darauf ist die Queen mit Augenbinde zu sehen; ihr Mund ist mit einer Banderole verklebt, auf der im Original der Name der Band steht. ABC ersetzte das mit dem Namen von Boris Johnson. Die Botschaft lässt sich auf zwei Weisen lesen: Ein Land samt Monarchin wird zum Schweigen verdammt, oder aber: Die Queen wird hineingezogen in Johnsons Manöver und darf doch aus Staatsräson nichts sagen.

In Schottland - zugegeben Teil des Königreichs, aber in Sachen Brexit eher Feindesland für die Tories - titelt die wichtigste Tageszeitung The Scotsman, dies sei ein "dunkler Tag für die Demokratie" und zitiert die Ministerpräsidentin, die Unabhängigkeit Schottlands sei nun wohl "unausweichlich". Die britischen Medien, ohnehin oft gallig, sarkastisch und weit weg von jener Trennung von Nachricht und Kommentar, die traditionsbewusste europäische Medien nach wie vor durchzuhalten versuchen, britische Medien also überschlagen sich in der zweiten Wochenhälfte mit Vergleichen und Beschimpfungen; das reicht von "Coup", "Anschlag" und "Rüpel" bis zum "großen Auflöser". Der Brexit ist längst ein Drama. Jetzt wird er als Bedrohung für die Demokratie angesehen.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2019
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