Meine Presseschau:Verschwörung und Reue

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Russlands Athleten dürfen wegen des Doping-Skandals nur unter neutraler Flagge bei Olympia in Korea mitmachen. Die Moskauer Presse reagiert heftig.

Ausgewählt von Julian Hans, Moskau

Angesichts der haarsträubenden Vorgänge, die der McLaren-Report über das kriminelle Zusammenwirken von Politik, Sport und Geheimdienst beim Doping in Russland dokumentiert, erschien manchen die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees zu milde. Russische Sportler dürfen mitmachen, aber ihre Fahne müssen sie zu Hause lassen. Athleten sind willkommen, Minister und Funktionäre haben Hausverbot. Die russische Öffentlichkeit hat aber gerade dieser Kompromiss so erschüttert, wie es ein Komplettausschluss nicht vermocht hätte. Plötzlich stand man vor der Entscheidung, wieder zu trennen, was Wladimir Putin verschmolzen hat: Sport und Politik. Die Frage heißt: Kann ein Sportler nur für sich siegen? Geht es nicht um einen Sieg des Vaterlandes, das jetzt mehr denn je unter Beschuss steht?

Unter neutraler Flagge anzutreten sei nichts anderes als Verrat, zitiert Russlands größte Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda den Vater der Eisschnellläuferin Olga Graf. Glück für Graf, dass Putin am Tag nach dem Urteil einen Boykott ausschloss. Sein Machtwort hat ein wenig Druck aus dem patriotisch überhitzten Kessel genommen. Wer trotzdem nach Pyeongchang fährt, kann sich auf die höchste Instanz berufen.

Während dem Kreml ergebene Medien das IOC-Urteil nur als anti-russische Verschwörung erklären können und in patriotischen Facebook-Gruppen gar von "Krieg" gegen Russland die Rede ist, finden sich ausgewogenere Analysen in der Fachpresse. Das Land stehe vor der "schwersten Entscheidung in der Geschichte des russischen Sports", schreibt die Tageszeitung Sport-Express. Da seien auf der einen Seite die Fans, auf der anderen diejenigen, deren Herz vor allem für die Fahne schlägt, unter der diese Menschen antreten. Diese sollten sich in die Sportler hineinversetzen, die oft nur einmal in ihrer Karriere die Chance haben, bei Olympischen Spielen anzutreten. Für die mag es kränkend sein, ihre Medaille als "neutrale Sportler" entgegenzunehmen. Noch schlimmer wäre es, wenn sie am Fernseher verfolgen müssten, wie schwächere Konkurrenten an ihrer Stelle die Medaille für ein anderes Land umgehängt bekommen. "Russland darf sich nicht spalten lassen", resümiert der Sport-Express. "Wir sollten uns vertragen. Und unsere Mannschaft bei Olympia unterstützen. Selbst unter der komischen Abkürzung OAR (Olympic Athlete from Russia)."

Die Redaktion der Tageszeitung Sowetskij Sport ist selbst so gespalten, dass sie gleich drei Kommentare zum Thema veröffentlicht. Der Autor Dmitrij Ponomarenko versucht es mit einem Kompromiss - und schlägt eine Volksbefragung vor: "Diese Frage sollten nicht die Sportfunktionäre beantworten, nicht die Athleten und auch nicht die Staatsspitze", schreibt er. Schließlich betonten die Sportler doch stets, sie würden die Medaillen für ihr Land holen. Er selbst sei gegen eine Teilnahme, denn sie stelle die olympischen Prinzipien infrage. Von Anbeginn der Spiele hätten dort (antike) Stadtstaaten miteinander im Wettbewerb gestanden und nicht Einzelpersonen.

Für die liberale Wirtschaftszeitung Vedomosti zeigen die Reaktionen "die spezifischen Vorstellungen eines großen Teils unserer Gesellschaft und der Elite vom Sport als eines der wichtigsten Schlachtfelder, auf denen Russland gegen eine globale Verschwörung hinter den Kulissen kämpft". Putin selbst hatte noch im Oktober gesagt, ein Start unter neutraler Flagge komme einer Erniedrigung gleich. "Diese Erniedrigung hätte sich vermeiden lassen, hätten sich die Sportfunktionäre von Anfang an an die Regeln gehalten."

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