Meine Presseschau:Lebensgefährliche Normalität

Strittmatter, Kai

Kai Strittmatter ist Korrespondent der SZ in Skandinavien.

(Foto: Bernd Schifferdecker)

Die schwedischen Medien stellen den Sonderweg der Politik im Umgang mit Corona in Frage.

Von Kai Strittmatter

Schweden geht seinen eigenen Weg in der Corona-Krise, setzt auf Appelle statt Verbote und Restriktionen. Von der WHO gab es dafür diese Woche wohlwollende Worte. "Schweden ist zum Vorbild für die Welt geworden", freute sich die Zeitung Sydsvenskan. Überraschend war das WHO-Lob deshalb, weil es zu einem Zeitpunkt kam, da die Todesstatistiken immer schlechter aussehen für Schweden, und auch im Land selbst die Stimmen des Zweifels lauter werden. Das ist neu, in Schweden selbst fehlten lange bis auf wenige Ausnahmen kritische Stimmen.

Nachdem diese Woche die ohnehin hohen Todeszahlen noch einmal nach oben korrigiert wurden, druckte selbst das sozialdemokratisch orientierte Boulevardblatt Aftonbladet, der größte Cheerleader des offiziellen Kurses, nachdenkliche Töne: "Ist es Zeit für Schweden, umzudenken?" Angesichts der Kluft in den Sterberaten zwischen Schweden und seinen Nachbarn (sechs Mal so hoch wie in Norwegen) könne man "nicht länger die Augen verschließen". Die Mehrheit im Volk und auch unter den Kommentatoren steht noch immer hinter der Regierung, aber als diese Woche zwei Wissenschaftler prophezeiten, sie rechneten am Ende mit 8000 bis 20 000 Toten in Schweden, hielten manche den Atem an. Wie es da noch möglich sei, die Linie der Freiwilligkeit zu verteidigen, fragte der rechtsliberale Expressen: Schweden solle seine Selbstzufriedenheit ablegen. Und der Chefredakteur der liberalen Dagens Nyheter warnte seine Landsleute, nicht abzustumpfen angesichts der Begrifflichkeit der Staatsepidemiologen, die den Schweden tagtäglich versichern, man sei auf einem sich abflachenden "Plateau" angekommen. "Kein Plateau dieser Welt sollte uns ein Gefühl der Normalität geben, wenn es bedeutet, dass es ein paar Tausend Schweden das Leben nimmt."

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