Meine Presseschau:Filmfestival auf Selbstsuche

Bei den Festspielen von Cannes beschäftigt die Frauenfrage die Kritiker und auch, was für ein Mensch Alain Delon ist.

Von Fritz Göttler

Der Start des Filmfestivals von Cannes, des größten der Welt, war ziemlich holperig vorige Woche. Peter Bradshaw, der Kritiker des Guardian, war beim Eröffnungsfilm, "The Dead Don't Die" von Jim Jarmusch, nicht so ganz zufrieden, der Film sei "leichtgewichtig und unfertig, eine Sammlung von Ideen, Stimmungen und renommierten Schauspielern, die einander umkreisen in einem ,shaggy dog tale' - einer Geschichte, die nicht auf den Punkt kommt". Sein Kollege Andrew Pulver wunderte sich derweil, dass die unabhängige Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs eine Netflix-Produktion im Programm habe, "Wounds" vom Iraner Babak Anvari, obwohl das Festival für den Wettbewerb Werke des Streamingdienstes kategorisch ausgeschlossen hatte.

In Sachen Alain Delon bekommt Festival-Chef Thierry Frémaux inzwischen Schützenhilfe von der französischen Presse, von Michel Guerrin, dem Chefredakteur von Le Monde. Delon soll am Sonntag eine Ehrenpalme des Festivals bekommen, dagegen wurde in den USA eine Petition lanciert, die bereits Zehntausende Unterschriften zusammengebracht hat: Delon sei rassistisch, misogyn, homophob, und man solle gefälligst die Ehrung absagen. Das sei eben der Preis für den Ruhm, eine Folge des Weinstein-Skandals und der "Me Too"-Bewegung, schreibt Guerrin - "als müsste Cannes die Tugend der Welt tragen, pur und perfekt sein". Und er beschwört die Komplexität des Menschen Delon, "der nie versucht hat, angenehm zu sein".

Auch im anderen heftig diskutierten Punkt, der Frauenquote, gibt es Beruhigung. Das Festival hatte kurz vor Beginn erstmals eine Statistik vorgelegt - die Prozentzahl der eingereichten Filme entsprach ziemlich genau derjenigen der Filme, die für den Wettbewerb ausgewählt wurden. Eugene Hernandez, Mitherausgeber der Filmzeitschrift Film Comment, deutet an, dass es wohl ein langwieriger Prozess sei, bis eine Gleichheit der Geschlechter erreicht werde. Und er zitiert beschwichtigend Thierry Frémaux, der von Agnès Varda erzählt, der verehrten Filmemacherin, die im März gestorben ist und die nun als Leitfigur des diesjährigen Festivals leichtfüßig das Plakat ziert. "Versprich mir", sagte sie, "du wirst nie einen Film auswählen, bloß weil er von einer Frau ist."

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