Meine Presseschau:Die Seele der Türkei

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Die türkischen Medien setzen sich mit dem Erbe des Republikgründers Atatürk auseinander. Der Laizismus ist in Gefahr, eine islamische Verfassung erscheint möglich.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Es ist lange her, dass sich die Türkei so intensiv mit ihrem Gründervater Mustafa Kemal Atatürk beschäftigt hat. Seit Recep Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP das Land regelrecht beherrschen, verblasst das Erbe Atatürks. Erdoğan arbeitet heftig daran, der neue Vater der Türken zu sein. Aber in dieser Woche war Atatürk plötzlich wieder sehr präsent. Parlamentspräsident İsmail Kahraman hatte dessen Vermächtnis infrage gestellt, die Trennung von Religion und Staat. Er schlug vor, den Laizismus aus der Verfassung zu streichen, er wünsche sich ein islamisches Grundgesetz.

Die kemalistische und regierungskritische Zeitung Sözcü druckte daraufhin das Konterfei Atatürks mit seinem durchdringenden Blick. In einer Sprechblase diktierte er die Schlagzeile des Blattes: "Laizismus bedeutet, ein richtiger Mann zu sein." Es folgte dann eine Zeitreise in die Gründungsjahre, als das junge Land über die Trennung von Staat und Republik debattierte. Damals soll ein islamischer Gelehrte gefragt haben, was es mit diesem Laizismus auf sich habe. Atatürk habe mit seinem Ausspruch vom richtigen Mann gekontert. Zur Titelstory gehörte dann auch noch ein Foto aus dem Jahr 2016, das zeigte wie Polizisten und Demonstranten aufeinander losgehen in eben diesem Streit.

In mehreren Städten kam es zu Kampfszenen, nachdem Kahraman seine Idee präsentiert hatte. Das zeigt schon, wie die Rolle der Religion dieses Land seit der Gründung immer noch aufzuwühlen vermag. Daran änderte auch wenig, dass Erdoğan und auch Regierungschef Ahmet Davutoğlu heftig dementierten, den Säkularismus aus der Verfassung streichen zu wollen. Kahraman habe lediglich seine persönliche Meinung geäußert.

Yeni Akit, islamisches Unterstützerorgan der Regierung, beschwert sich: "Alles kann diskutiert werden, nicht aber Atatürk und sein Wertesystem. Dieses Dröhnen, das das Denken lahmlegt, wird anscheinend nicht aufhören, die Gesellschaft zu zermürben." Auf der anderen Seite empört sich die Cumhuriyet, einst stramm kemalistisch: "Das eigentliche Ziel ist Atatürk."

Kolumnist Özgür Mumcu mag nicht glauben, dass der Parlamentspräsident nur eine Einzelstimme im Erdoğan-Kosmos ist. Der Staatspräsident habe den Mann an der Spitze des Parlaments haben wollen, erinnert er. Es sei auch kein Geheimnis, wie Kahraman über den Laizismus denke. Mehmet Y. Yılmaz, Kolumnist der Hürriyet, der größten liberalen Zeitung, verfolgt ebenfalls mit Misstrauen, wie die Politiker in der AKP agieren: "Sie bringen eine Idee auf die Tagesordnung, ziehen sie zurück und bringen sie dann wieder auf die Tagesordnung."

Murat Yetkin, der für die englischsprachige Hürriyet Daily News die Politik analysiert, erinnert daran, dass der Säkularismus der Schlüssel zur türkischen Demokratie sei. In diesem System sei die AKP mit ihren islamischen Wurzeln durch Wahlen an die Macht gekommen.

Weil im Zuge der Affäre um Jan Böhmermanns Schmähgedicht der Eindruck entstanden ist, in der Türkei gebe es wohl keinen Humor mehr, keine Satire, an dieser Stelle ein Blick auf das Cover der Zeitschrift Uykusuz, schlaflos: Zwei Männer sitzen sich gegenüber. Man sieht nur die Arme und Hände. Es geht um den islamischen Umbau des Landes, bis hin zur Scharia. Die Hände des einen Mannes zittern. Er sagt, dass er Angst habe. Es könne dazu kommen, dass Dieben die Hände abgehackt würden. Aber nein, sagt sein Gegenüber. Unsere Immunität schützt uns auch dann. Der Tenor: Die Herrschenden würden schon nicht zulassen, dass ihnen jemand gefährlich wird.

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