Süddeutsche Zeitung

Kolumne "Mein Leben in Deutschland":Wenn die Mutter die Braut wählt

Sie nutzen Dating-Apps und haben Sex vor der Ehe: Doch beim Heiraten halten junge Geflüchtete an traditionellen Vorstellungen fest, hat unser syrischer Gastautor beobachtet.

Kolumne von Yahya Alaous

Noch gibt es nicht viele Statistiken, die belegen, was junge Flüchtlinge in Deutschland vom traditionellen Familienleben halten. Aus den wenigen, die es gibt, wird klar: Junge Geflüchtete haben eher konservative Einstellungen gegenüber Gesellschaft und Familie. Die Suche nach einer guten Ehefrau ist in der überwiegend männlichen Community der jungen Geflüchteten ein Thema. Denn heiraten und eine Familie gründen, wie sie es aus ihren Heimatländern kennen, das wollen natürlich viele. Jeder in Deutschland kennt den Beginn einer solchen traditionell geführten Ehe, wenn eine syrische, libanesische oder palästinensische Hochzeit gefeiert wird und ein Autokorso mit lautem Hupen durch die Innenstädte zieht.

Für junge Flüchtlinge ist es nicht leicht, eine Ehe einzugehen. Die Familienzusammenführung ist kompliziert, man kann keine Verwandten nach Deutschland bringen, und es gibt nur wenige geflüchtete arabische Frauen in Deutschland. Erschwerend kommt hinzu: Frauen, die ein Kopftuch tragen, sind und bleiben die meistbegehrten Ehefrauen. Entsprechend wächst das Vermittlungsgeschäft einiger Damen, die Ehen anbahnen. Diese Kupplerinnen findet man besonders in den Gegenden, in denen überwiegend arabische Muslime wohnen.

In den vergangenen Jahren habe ich oft mit jungen Männern, die neu nach Deutschland kamen, über die Ehe und die traditionelle Familiengründung diskutiert und nie eine ablehnende Haltung der Ehe gegenüber gehört. Viele dieser Männer haben trotz aller familiären Verpflichtungen ein (intimes) Privatleben, sie nutzen Dating-Apps auf ihren Smartphones und unterhalten körperliche voreheliche Beziehungen.

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 43-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

Sie gehen in Nachtclubs und zu Prostituierten, doch wenn es um die Suche nach einer passenden Ehefrau geht, suchen sie in den arabisch geprägten Gegenden - in Berlin zum Beispiel in der Sonnenallee oder der Turmstraße. Hier wird dann, mit Hilfe der Kupplerin oder über Bekannte und Verwandte nach einer verschleierten heiratswilligen jungen Frau gesucht.

Doch nicht immer steht der Wunsch nach Ehe an erster Stelle, manche suchen auch zunächst ein wenig Nähe und die Erfahrung mit dem anderen Geschlecht. Dating-Apps gehören zu den Dingen hier in Deutschland, die die jungen Geflüchteten am meisten verwirren. In den Herkunftsländern sind diese Apps nicht sehr verbreitet - oder zumindest spricht man nicht so offen wie im Westen über sie und darüber, was man mit diesen Apps erleben kann.

Auch wenn viele das digitale "Match-Making" zunächst ablehnten, haben die jungen Männer es mehr und mehr angenommen. Langsam hat sich der Gebrauch dieser Apps unter männlichen Geflüchteten verbreitet. Sie melden sich in diesen Portalen meist unter falschem Namen an.

Mittlerweile scheint es für die jungen Männer normal zu sein, diese Apps zu benutzen, obwohl sie sich Mühe geben, im Netz nicht von Bekannten entdeckt zu werden. Das wäre ihnen peinlich; sie wollen den Eindruck vermeiden, dass sie sich nicht für eine ehrliche Beziehung, die zu einer Ehe führen sollte, interessieren, sondern nur für schnellen Sex. Zudem scheinen alle zu glauben, dass Frauen, die sich auf diesen Portalen anmelden, Prostituierte seien.

Neben den Dating-Seiten gibt es natürlich auch Portale, auf denen islamische Ehen angebahnt werden können. Doch diese Seiten sind, trotz der hohen Ansprüche, die sie bedienen wollen, nur eine schlechte Kopie der westlichen Dating-Seiten.

In meiner Heimat Syrien ließen und lassen sich die meisten jungen Menschen von der Forderung nach Geschlechtertrennung durch religiöse Einrichtungen nicht beirren. In den Universitäten lernen und leben junge Männer und Frauen Seite an Seite - eine gesellschaftliche Innovation, die weniger Gebildete nicht erleben. Doch viele der Gebildeteren leben immer noch, wenn auch mit starken Abstrichen, ein westliches Leben und eine westliche Beziehung - mit allem, was dazugehört. Auch mit Sex!

Allerdings haben voreheliche Beziehungen bei uns selten Bestand. Sobald es um die Eheschließung geht - natürlich auch auf Wunsch oder unter Druck der Familie -, bekommt das Wort der Mutter des Mannes mehr Gewicht als die Wünsche und Gefühle des Heiratswilligen. Denn die Mutter ist es immer noch, die dem Sohn die Braut auswählt.

So kommt es, dass viele junge Männer - ich spreche hier von der syrischen Gesellschaft, egal ob in Syrien oder der Diaspora - ihren Müttern die volle Kontrolle über ihr Leben geben. Aus meinen Recherchen und Erfahrungen als Sozialberater in Syrien weiß ich, dass das Leben dieser so zusammengebastelten Ehepaare oft sehr viel unglücklicher sein wird, dass häusliche Gewalt häufiger vorkommt und dass solche Ehen oft in Untreue und Scheidung enden.

Eine Frau, die jungfräuliche Ehemänner fordert, erntet einen Shitstorm

Natürlich gibt es eine wachsende Anzahl von jungen Paaren, die sich hier in Deutschland abwenden von den Kriterien der nahöstlichen oder islamischen Gemeinschaft. An einer Regel aber halten alle jungen Männer, mit denen ich sprach und von denen ich hörte, unbedingt fest: Eine Frau mit vorehelichen sexuellen Kontakten kann nicht geheiratet werden.

Vor Kurzem sah ich ein Video auf Youtube, in dem eine junge verschleierte Frau auf sehr humorvolle Art und Weise ihren Wunsch nach einem unbefleckten Ehemann vortrug. Für den Satz "Ich wünsche, dass auch mein zukünftiger Mann jungfräulich in die Ehe mit mir geht" erntete sie einen Shitstorm. Männliche Kommentatoren verlachten sie, beschimpften sie und nannten sie eine "Hure".

Ich vermute, dass sich diese Einstellung junger männlicher Geflüchteter gegenüber Frauen und der Ehe in den kommenden Jahren nicht verändern wird. Studien belegen, dass türkische, in Deutschland lebende und türkischstämmige deutsche Männer nach Jahrzehnten des Lebens in Deutschland immer noch so denken und empfinden wie die erst seit Kurzem hier lebenden Araber. Deshalb ist die Rekonstruktion des Hymens vor der Hochzeit wie in vielen arabischen Ländern mittlerweile auch in Deutschland fast zur Standardleistung der Frauenärzte und -ärztinnen geworden (die allerdings nicht von den Krankenkassen bezahlt wird).

Diese jungen Männer sollten ihre Einstellungen gegenüber ihren künftigen Ehefrauen überdenken - auch wenn die Religiösen, die Gesellschaften und die Herrscher in den Herkunftsstaaten an ihren Glaubenssätzen festhalten. Ich rate dringend dazu, wenn den Männern an stabilen und gleichberechtigten, modernen Partnerschaften gelegen ist.

Übersetzung: Jasna Zajček

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