Mein Leben in Deutschland:Ein wunderbarer Traum

Geflüchtete führen durch Berliner Museen

Im Deutschen Historischen Museum gibt es sogar eigene Führungen von Flüchtlingen für Flüchtlinge.

(Foto: dpa)

Deutschland ist voll von Kultur, sogar auf dem Land. Flüchtlinge lernen so, dass alles zur Diskussion steht und man über alles reden darf - auch über nackte Haut. Eine neue Folge von "Mein Leben in Deutschland".

Kolumne von Yahya Alaous

Berlins Kulturangebot ist einfach exzellent, jeder hier hat täglich Dutzende Möglichkeiten. Sie beginnen bei Kino und Theater, gehen über Lesungen und Tanzdarbietungen bis hin zu Konzerten, Kunstausstellungen und Buchvorstellungen - häufig von jungen, hoffnungsvollen Literaturtalenten.

Das Leben in so einer Stadt ist erfüllt von Kultur. Es ist wie ein wunderbarer Traum, wenn man aus einem kulturell ausgehungerten Landstrich kommt, vor allem für diejenigen jungen Menschen, die ihre Studien aufgrund des Kriegs in Syrien unterbrechen mussten. Für sie besteht das Leben hier aus dem Studium der deutschen Sprache - und dem Genießen.

Wenn man sich die bewegte Szene Berlins genauer anschaut, bemerkt man immer mehr Flüchtlinge auf den Veranstaltungen. Zusätzlich gibt es noch allerlei Events, die seit mehr als zwei Jahren dafür sorgen, dass junge geflüchtete Talente, Schriftsteller, Poeten, Künstler, Tänzer und Schauspieler hier richtig ankommen können.

Die vorherrschende Atmosphäre und die positiven Begegnungen schaffen, dass die Geflüchteten sich auf die Bedeutung von Kultur besinnen, und noch viel mehr: dass sie sich erinnern, wie wichtig die Argumente, die die Kulturschaffenden im Rahmen der syrischen Revolution vorbrachten, bis heute sind - um sich der Tyrannei zu widersetzen.

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 43-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

In einem Land wie Syrien ist Kultur inzwischen zum Werkzeug des Regimes geworden, Schriftsteller und Gebildete sind mit ihren Ideen und Gedanken geflüchtet. Die geblieben sind, verharren in Schweigen oder haben aufgehört, Politisches zu produzieren. Sie schwimmen jetzt alle im selben Strom, denn alles andere könnte sich lebensgefährlich auswirken. Über Religion und Sex will ich gar nicht erst sprechen.

Vor ein paar Wochen habe ich in Berlin eine Ausstellung eines US-amerikanischen Fotografen mit dem Thema Nacktheit besucht. Ich sah viele Syrer unter den Besuchern. "Ganz schön viele Flüchtlinge hier", dachte ich mir, und versuchte mir diese Ausstellung in Damaskus vorzustellen. Wären sie alle gekommen? Hätten sich nicht viele über die vermeintliche Pornografie aufgeregt? Vielleicht war diese Frage gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass diese jungen Menschen anscheinend aufrichtiges und großes Interesse an dieser neuen Art von Kultur zeigten, und das ganz offensichtlich, ohne Vorurteile. Ohne Nacktfotografie zu verurteilen, so wie es in den arabischen Ländern natürlich Usus ist.

Vor Kurzem nahm ich an einem Gespräch über "Berichterstattung über Frauen in der Wissenschaft" in Berlin teil. Das Publikum war vielfältig, und die Diskussion danach war so angeregt, es gab kluge und wertvolle Fragen, komplett ohne Gequassel und Geplapper. Es macht einen Unterschied, ob viele Geflüchtete im Publikum sitzen oder nicht: denn viele von ihnen trauen sich meiner Erfahrung nach nicht, offen zu sprechen, andere wiederum halten die langen akademischen Vorträge nur aus, um sich danach mit komplizierten Redebeiträgen ungefragt ins vermeintlich rechte Licht zu setzen.

Dieses Verhalten ist eine Art kultureller Krankheit, die viele von uns mit sich schleppen, und (nicht nur) ich denke, dass es an der Zeit ist, diese abzuschütteln. Meine Freundin, die diesen Artikel übersetzt, ist eine junge deutsche Schriftstellerin, die viele Lesungen aus ihrem neuen Buch ("Kaltland") gegeben hat. Immer wieder kamen Interessierte, die sich mit ihr und ihren Erzählungen auseinandersetzen, neue Gedanken eingaben und am Gespräch interessiert waren. Leider haben selbst die größten Schriftsteller in meinem Land nicht mal ansatzweise die gleichen Chancen.

Aber nicht nur Berlin ist voll von Kultur, sondern selbst das Umland. Als ich ein kleines Dorf in Brandenburg besuchte, sah ich den kulturellen Monatsplan des Dörfchens, angeschlagen an einem grünen Baum am zentralen Platz. Was es da alles gab! Lesungen natürlich, Konzerte, Tanz und Yoga. Mir wurde auf wunderbare Weise klar, dass kulturelle Bewegungen sich durch die Luft voranbewegen, sie nicht zu stoppen sind, da sie keine Grenzen und keine Barrieren kennen. Die kulturelle Landschaft der Geflüchteten wird jeden Tag größer, sie bekommt neue Horizonte, wir erkennnen, dass alles zur Diskussion steht und man über alles diskutieren darf, sogar über die Tabus, die in Syrien alle kulturellen Diskussionen überstrahlten.

Und ich bemerke, dass mehr und mehr Syrer sich für all diese Themen interessieren, selbst die, die zuvor nicht unbedingt neugierig waren und nie freiwillig ein ganzes Buch gelesen hätten. Jetzt warte ich nur noch auf ein paar mehr Blondschöpfe auf den kulturellen Events der Geflüchteten.

Übersetzung: Jasna Zajcek

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