Mit Brustimplantaten fing alles an.Zur Jahrtausendwende verloren mit Sojaöl gefüllte Brustkissen das CE-Zertifikat, gleichbedeutend mit der Marktzulassung für die EU. Der Grund: Die Kissen konnten reißen oder undicht werden, was Schwellungen und Entzündungen auslöste. Die EU-Kommission stellte deshalb 2001 fest, "dass Maßnahmen, die sich ausschließlich auf die technischen Anforderungen an Brustimplantate beziehen, nicht ausreichen, um den bestmöglichen Gesundheitsschutz sicherzustellen".
Mit anderen Worten: Das bisherige europäische Regelwerk zur Zertifizierung von solchen Medizinprodukten hatte Lücken. Doch erst als im Frühjahr 2010 ein zweiter Brustimplantate-Skandal rund um die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP) die Öffentlichkeit erschütterte, wurden die EU und ihre Mitgliedsstaaten wirklich aktiv. In einer neuen Verordnung, die im Mai 2017 in Kraft trat und im Mai 2020 ihre volle Wirkung entfaltet, wurden die Regeln für medizinische Geräte europaweit neu gefasst.
"Die neue Verordnung ist gut für die Patienten", lobte der CDU-Politiker Peter Liese, und stärke "die seriösen Hersteller". Die Menschen in Deutschland und Europa hätten "ein Recht darauf, dass wir die richtigen Konsequenzen aus den Skandalen, zum Beispiel um schadhafte Brustimplantate, ziehen". Dass Liese die neue Verordnung rühmt, kommt nicht von ungefähr. Schließlich war der gesundheitspolitische Sprecher der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament maßgeblich an den jahrelangen Verhandlungen beteiligt.
Doch hält die neue Medizinprodukteverordnung, was Liese verspricht? Fraglos ist es ein Erfolg, dass nun jedes einzelne Medizinprodukt in der EU eine eigene Nummer hat und eindeutig zu identifizieren ist. Auch dass nicht mehr nur eine privatwirtschaftlich organisierte, sogenannte Benannte Stelle hochriskante Implantate allein zulässt, sondern ein Expertengremium dabei Ratschläge erteilt, klingt gut. Zudem müssen die Benannten Stellen nun unangemeldet bei den Herstellern kontrollieren - mindestens einmal alle fünf Jahre. Bisher gab es keine solch verbindliche Anweisung. Allerdings gibt es viele Punkte, die Experten und Patientenanwälte kritisieren:
- Implantate und andere Medizinprodukte kommen weiter ohne eine Zulassung durch eine staatliche Behörde auf den Markt. Stattdessen entscheidet wie bisher eine kommerziell arbeitende so genannte Benannte Stelle wie der TÜV oder die Dekra als Geschäftspartner der Hersteller darüber, ob ein Produkt implantiert werden darf. Dadurch können sich Medizintechnikunternehmen weiterhin in irgendeinem Land in Europa eine Benannte Stelle aussuchen, um ihr Produkt dort zertifizieren zu lassen. Wenn es in einem EU-Mitgliedsstaat nicht klappt, können sie es so lange anderswo probieren, bis es funktioniert. So wie es auch schon vor der neuen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) beim schnurlosen Herzschrittmacher Nanostim passiert ist: Damals lehnte der TÜV das Produkt ab. Also ging der Hersteller einfach zur British Standards Institution (BSI) ins Vereinigte Königreich. Dort bekam er sein CE-Zertifikat. Auf Anfrage von SZ, NDR und WDR teilte BSI mit, dass das Produkt den damals geltenden Vorschriften entsprochen habe. Zudem habe man nicht gewusst, dass eine andere Behörde Nanostim abgelehnt habe.
- Benannte Stellen haben Interessenkonflikte: Die Hersteller der Medizinprodukte beauftragen TÜV, Dekra und andere damit, ihr Gerät zu prüfen, und bezahlen sie dafür. Heißt: Die Unternehmen finanzieren die Prüfinstanzen. Das ist ein Problem, denn einerseits sollen die Qualitätsstandards bei den Produkten eingehalten werden, andererseits könnten zu scharfe Kontrollen dazu führen, dass sich die Hersteller eine andere Benannte Stelle suchen. Die Grünen-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Michèle Rivasi, kritisiert dies scharf: "Ich habe überhaupt kein Vertrauen, wenn eine private Einrichtung ein privates Unternehmen bewertet. Dann besteht das Risiko, dass die Zertifizierungsstelle Produkte nur genehmigt, um daran Geld zu verdienen."
- Den Benannten Stellen fehlt das medizinische Fachwissen. Dabei müssten sie eigentlich laut Artikel 36 der Verordnung "ausreichend administratives, technisches und wissenschaftliches Personal" sowie "Personal mit einschlägiger klinischer Erfahrung" beschäftigen. Laut verschiedenen Quellen, die das Internationale Konsortium für Investigative Journalisten (ICIJ), das die Implant-Files-Recherche koordiniert, befragte, stellen die großen Benannten Stellen zwar sehr viele neue Leute ein. Dennoch arbeiten dort offenbar kaum Ärzte, sondern eher Chemiker, Physiker oder Ingenieure. "Das Problem ist, dass ein Ingenieur oder ein Techniker die Aussagekraft einer klinischen Prüfung nur begrenzt beurteilen kann. Ein medizinischer Sachverstand ist bei vielen dieser Fragen unerlässlich", sagt Kurt Racké, der als stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises Medizinischer Ethikkommissionen in Deutschland klinische Prüfungen bei Arzneimitteln und Medizinprodukten bewertet. So aber werden Medizinprodukte meist von Leuten zertifiziert, die nicht wissen, ob so ein Gerät medizinisch wirklich einen Nutzen bringt. Auf eine Anfrage von SZ, WDR und NDR antwortete die europäische Interessenvertretung der Benannten Stellen nicht. Die britische Prüfbehörde BSI sagte auf Anfrage, dass man "klinisch qualifizierte Spezialisten" beschäftige. Von Medizinern ist jedoch keine Rede.
- An Arzneimittel wird ein viel strengerer Maßstab angelegt als an Medizinprodukte. Medikamente können nur auf den Markt gelangen, wenn umfangreiche Studien mit menschlichen Patienten ihre Wirksamkeit belegen. Silikonkissen oder andere risikoreiche Medizinprodukte können hingegen implantiert werden, ohne dass sie hinreichend getestet sind. "Wenn wir die Ansprüche anlegen würden, wie wir sie für Arzneimittel haben, dann fällt das weit dahinter zurück. Der Patientennutzen in geeigneten Studien wird eigentlich vor der CE-Zertifizierung, die ja so etwas wie der Markteintritt ist für Medizinprodukte, nicht wirklich systematisch geprüft", sagt Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das unter anderem den Nutzen von Medizinprodukten bewertet.
- Die Anforderungen an klinische Studien sind zu vage. Bevor ein Implantat oder ein anderes Medizinprodukt in Europa verkauft werden kann, benötigt es einen "ausreichenden klinischen Nachweis". So steht es in der neuen Verordnung. Racké hält diesen Terminus für "sehr schwammig" und fügt hinzu: "Es ist nicht wirklich klar erkennbar, was als ausreichend anzusehen ist." Was die die neue Verordnung überdies sogar bei hochriskanten Geräten nicht vorschreibt: randomisierte Studien, bei denen die Probanden nach dem Zufallsprinzip in zwei oder mehr Gruppen aufgeteilt werden, große Stichprobenumfänge oder andere wissenschaftlich bewährte Verfahren. Das ist ein großer Unterschied zur amerikanischen staatlichen Medizinaufsicht FDA, die oft Studien von hoher Qualität verlangt.
- Medizinprodukte können weiterhin ganz ohne vorherige klinische Tests auf den Markt gelangen. Nämlich dann, wenn der Hersteller argumentiert, dass das neue Gerät so ähnlich ist oder funktioniert wie eines, das bereits einmal auf dem Markt war. Dieses sogenannte Äquivalenzprinzip wurde schon vor der Einführung der neuen Medizinprodukteverordnung gerne genutzt: In einer E-Mail aus der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der EU vom März 2016, die das Implant-Files-Projekt einsehen konnte, heißt es, dass es bei 90 Prozent der Hochrisiko-Geräte der Klasse III keine klinischen Daten gebe, sondern nur Daten von "ähnlichen Geräten". Zwar wurden die Kriterien durch die neue MDR verschärft; so können Hersteller nun de facto nur noch auf eigene Vorgängerprodukte, nicht mehr auf Geräte von Konkurrenten verweisen. Allerdings hat die EU das Schlupfloch des Äquivalenzprinzips durch die neue Verordnung eben nicht ganz geschlossen. Aus Sicht von Experten ist das Äquivalenzprinzip ohnehin realitätsfremd: "Das entscheidende Problem ist, dass ein Gerät gar nicht mehr äquivalent sein kann, weil der Hersteller selbst behauptet, dass es eine Verbesserung ist", sagt Jürgen Windeler vom IQWiG. "Sonst kauft es doch keiner."
- Die Empfehlungen eines Expertengremiums sind nicht bindend. Berufen sich Hersteller bei neuen hochriskanten Produkten wie Implantaten nicht auf das Äquivalenzprinzip, sind die Vorschriften der neuen Medizinprodukteverordnung tatsächlich schärfer: Die Hersteller bekommen das CE-Zertifikat dann nicht mehr so einfach von der Benannten Stelle. Stattdessen muss vorher ein Expertengremium befragt werden. In dieses werden von den EU-Mitgliedsstaaten Personen entsandt, die Fachwissen im Bereich Medizinprodukte haben. Allerdings steht in der neuen Verordnung, dass die Benannte Stelle den Ratschlägen des Gremiums nicht folgen muss. Tut sie dies tatsächlich nicht, muss sie dies jedoch begründen. Zudem wird der Vorgang öffentlich gemacht. Michèle Rivasi von den Grünen stört noch etwas anderes: "Wer kontrolliert die Experten? Wir haben keine Garantien dafür, ob die Experten nicht doch für die Pharmakonzerne arbeiten."
- Von einer Verpflichtung der Medizinproduktefirmen zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung ist keine Rede. Mit einer solchen wären Patienten im Schadensfall finanziell definitiv abgesichert gewesen. Allerdings hätte sie Kosten für die Hersteller verursacht. Einige EU-Parlamentarier wollten eine solche Pflichtversicherung einführen, konnten sich aber nicht durchsetzen: "Ich wollte, dass die Hersteller eine Haftpflichtversicherung haben, wenn ein Produkt schadhaft war oder die Zertifizierung nicht ausreichend war", sagt die SPD-Politikerin Dagmar Roth-Berendt, die von 1989 bis 2014 für die SPD im EU-Parlament saß und dort den Entwurf zur neuen Medizinprodukteverordnung mit ausarbeitete: "Aber insgesamt hat man das im Parlament und in den Mitgliedsländern wie hier im Bundesgesundheitsministerium für eine ziemlich abstruse Idee gehalten." Deshalb heißt es in der neuen Verordnung nur noch, dass die Hersteller freiwillig eine Versicherung abschließen oder Rücklagen bilden sollen, damit sie bei Schäden durch fehlerhafte Produkte haften können.
- Welche Daten wirklich jedermann einsehen kann, ist unklar. Die neue Medizinprodukteverordnung verspricht mehr Transparenz. Bisher war die Eudamed-Datenbank, in der seit Mai 2011 europaweit unter anderem Daten von klinischen Studien beziehungsweise Geräten oder Vorfälle mit Produkten erfasst werden, nur für Gesundheitsbehörden oder Benannte Stellen einzusehen. Nun sollen zumindest Teile der Datenbank für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Allerdings ist nicht sicher, ob zum Beispiel Vorfälle mit einzelnen Medizinprodukten wirklich öffentlich sichtbar sind. "In Sachen Transparenz ist die Eudamed das Kernstück der EU-Verordnung. Der Aufbau scheint aber in Verzug zu sein. Wenn die Datentransparenz nicht zeitnah und vor allem im festgelegten Umfang hergestellt und öffentlich wird, wäre das für die Patientensicherheit kritisch", gibt Sigrun Most-Ehrlein vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zu bedenken. Es sei spannend, ob am Ende Abstriche gemacht würden bei Aufbau, Zugang und der Art, wie Daten einpflegt werden.
- Der Rückfall in alte Zeiten droht. Im Jahr 2020 soll Eudamed voll funktionsfähig und nutzbar sein. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Wenn es nicht erreicht wird, bleibt es erst einmal beim alten, intransparenten System. Wie lückenhaft dieses ist, stellte die SZ während der Recherche fest: Laut der EU-Kommission hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zwischen 2012 und 2018 mehr als 2000 Berichte über Probleme bei medizinischen Geräten an Eudamed übermittelt. Doch bei einer Anfrage der SZ an die Datenbank fanden sich dort keinerlei deutsche Berichte über so kritische Geräte wie den kabellosen Herzschrittmacher Nanostim. Dabei sind in Deutschland mindestens zwei Nanostim-Patienten gestorben, nachdem ihr Herzbeutel bei der Implantation verletzt worden war. Auch zu Sprint Fidelis, einer Sonde, die die Herztätigkeit überwacht und an den Schrittmacher weiterleitet (mindestens vier Todesverdachtsfälle in Deutschland), findet sich nichts.