Süddeutsche Zeitung

Medizin:Schlangen in der Notaufnahme

Immer mehr Patienten kommen mit Lappalien in die Klinik.

Von Werner Bartens

Der Mann, Anfang 30, konnte nicht einschlafen - da stellte er sich nachts um 2.30 Uhr in der Notaufnahme vor. Ein anderer, Mitte 40, war spätabends im Anzug in die Klinik gekommen und hatte noch die Aktentasche unterm Arm. Als Grund für seinen dringenden Besuch in der Notaufnahme gab er an: Schnupfen. Auf die Frage, warum er nicht zum Hausarzt gegangen sei, kam die ehrliche Antwort: "Ich war nach der Arbeit mit ein paar Kollegen Bier trinken und habe jetzt Zeit." Ähnlich absurd muss man sich die Besuche der drei jungen Leute Anfang 20 vorstellen, die um ein Uhr nachts in die Notaufnahme kamen. Einer der Männer klagte über Unwohlsein und Völlegefühl, nachdem er im Fast-Food-Lokal einen Burger gegessen hatte.

"Solche Vorstellungen wegen banalem Schnupfen oder ,Magen-Darm-Grippe' bei jungen, ansonsten gesunden Personen kommen relativ häufig vor", sagt Markus Wörnle, Leiter der Medizinischen Notaufnahme am Klinikum der Universität München. "Mir fallen einige sinnlose Besuche aus der letzten Zeit ein." Nun ist Wörnles Arbeitsplatz am Rand der Innenstadt gut zu erreichen. Aber auch in anderen Kliniken kommen Patienten mit Lappalien dorthin, wo eigentlich Notfälle behandelt werden sollten, wie Hamburger Mediziner im Deutschen Ärzteblatt zeigen. Dabei wissen die Patienten, dass sie nicht ernsthaft krank sind.

Die Hamburger Allgemeinärzte um Martin Scherer erfuhren aus Befragungen von fast 1200 Patienten an fünf Kliniken in Norddeutschland, dass 54,7 Prozent der Patienten eine "niedrige Behandlungsdringlichkeit" angaben. "Wir versuchen, seit einiger Zeit herauszufinden, warum Patienten in die Notaufnahme kommen, obwohl sie auch an anderer Stelle, etwa beim Hausarzt betreut werden könnten", sagt Wörnle. "Einige Antworten hören wir immer wieder." So beklagen viele Patienten, dass sie beim Hausarzt "ohnehin keinen Termin bekommen" und "dann ewig warten" müssen. Auch die Versorgung sei oft unbefriedigend, weil der Hausarzt "nicht viel machen" könne und "nur weiter überweist", während in der Notaufnahme Röntgen, EKG, Labor und andere Untersuchungen sofort begonnen würden.

Auch "Bequemlichkeitserwägungen", wie die Hamburger Ärzte das Verhalten vieler Patienten nennen, sind häufig. Die Hausarztpraxis habe nicht mehr geöffnet und der Patient konnte nicht früher zum Arzt, wurde Wörnle schon entgegnet. "Ein anderer sagte, dass er den Termin beim Facharzt nicht wahrnehmen kann und dafür jetzt gekommen sei", so der Oberarzt.

Manche Patienten kommen, weil sie ein Rezept brauchen oder das Verbandsmaterial ausgegangen ist, andere haben keinen Hausarzt und blockieren die für lebensbedrohlich Kranke vorgesehene Notaufnahme mit ihren Zipperlein. Andere werden sogar wütend und randalieren, wenn sie schon Stunden warten - und dann ein Patient vorgezogen wird, der gerade mit Blaulicht kommt. Wörnle kann zwar nachvollziehen, dass manche Patienten die Rundumdiagnostik an einer Stelle schätzen. "Insgesamt haben wir aber den Eindruck, dass die Schwelle, sich in der Notaufnahme vorzustellen, erheblich gesunken ist."

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Quelle:
SZ vom 29.09.2017
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