Was für ein Arzt! Er zitiert Goethe und Benn, in seiner Freizeit spielt er Geige, und die Einladungen zur Hausmusik mit seinem Mediziner-Trio sind sehr begehrt. Ach ja, den richtigen Ton gegenüber Patienten trifft er auch, zudem zeichnen sich seine Therapieempfehlungen durch Weisheit, Wärme und große Menschlichkeit aus. Ungefähr so muss man sich das Klischee vom rundum gebildeten, künstlerisch interessierten Arzt vorstellen, der Kranke nicht nur medizinisch kuriert, sondern auch mit kulturellen Zugaben die Genesung beschleunigt.
Der Doktor als Freund der Musen tut womöglich mehr für die Gesundheit, als das Stereotyp vom Bildungsbürger im weißen Kittel vermuten lässt. Eine Analyse im Journal of General Internal Medicine zeigt: Angehende Ärzte mit Neigung zu Musik und Kunst bringen mehr Empathie gegenüber Patienten auf und gehen emotional intelligenter auf Nöte der Kranken ein als der Fachidiot. Zudem sind sie besser vor Burn-out geschützt.
Mehr als 700 zukünftige Doktoren wurden in die aktuelle Erhebung einbezogen. Wer ein Instrument spielte, häufiger Konzerte und Ausstellungen besuchte und ins Theater ging, zeigte sich seltener ausgelaugt und erschöpft, war offener gegenüber Neuem und empfänglicher für die Gefühle seiner Mitmenschen. Der Kunstgenuss wirkte sich zudem positiv auf das eigene Wohlbefinden aus.
"Kunst und Medizin haben sich in den vergangenen 100 Jahren immer weiter auseinanderentwickelt", sagt Studienautor Salvatore Mangione von der Jefferson University in Philadelphia. "Unsere Befunde sprechen dafür, die linke und die rechte Hirnhälfte zusammenzuführen - zum Wohle der Patienten wie der Ärzte." Medizin-Fakultäten sollten Studierende daher ermutigen, sich auch mit Literatur, Musik und Kunst zu beschäftigen.
"Wir leiten angehende Ärzte an, ihre künstlerische Seite nicht zu vernachlässigen, gerade wenn sie viel zu tun haben", sagt Claudia Spahn, Ärztin und Pianistin, die mit ihrem Mann Bernhard Richter, Arzt und Sänger, das Institut für Musikermedizin an der Uniklinik Freiburg leitet. "Das entspannt und trägt sie auch durch schwierige Phasen mit Prüfungsstress oder anderen Belastungen."
Thure von Uexküll, Nestor der Psychosomatik und Reformer des Medizinstudiums, hat schon vor Jahren vorgeschlagen, anstelle des Physikums ein "Philosophikum" einzuführen. Statt nur Physik, Chemie und Biologie zu pauken, sollten angehende Ärzte sich auch mit Geisteswissenschaften, Sprache und Kunst auseinandersetzen. Wer die Tragödien großer Literatur und Gefühlsaufwallungen guter Musik nicht kennt, hat womöglich auch weniger Verständnis für Bedürfnisse von Patienten zwischen Leid, Hoffnung und Tod.
Lieber ein versierter Operateur als ein Musikfreund, der das chirurgische Handwerk nicht versteht, sagen Ärzte, wenn sie der hohe Anspruch nervt. Dabei muss es sich nicht ausschließen, virtuos mit Cello und Skalpell umzugehen. "Es ist wichtig, nicht nur auf Numerus clausus und Naturwissenschaften zu achten, sondern auch andere Interessen zu kultivieren", sagt Musikermedizinerin Spahn. "Sonst werden Ärzte zu reinen Wissensmaschinen. Im Patientenkontakt hilft das nicht unbedingt weiter."