Sozan Azad, 50, ist Pädagogin, Familientherapeutin und Mediatorin und Vorsitzende des 1992 gegründeten Bundesverbandes Mediation. Es ist ein in ganz Deutschland aktiver interdisziplinärer Fachverband für Mediation mit mehr als 2500 Mitgliedern. Das Hauptziel des Verbandes ist die Verbreitung und die Weiterentwicklung der Verständigung in Konflikten.
SZ: Frau Azad, ein Monat Sondierungen, 15 Stunden Verhandlung in der Nacht zum Freitag und am Wochenende geht es weiter: Warum tun sich CDU, CSU, FDP und die Grünen so schwer mit den Sondierungen für eine Jamaika-Koalition?
Sozan Azad: Ich würde sagen, die diskutieren erst seit vier Wochen und auch so eine lange Nacht halte ich nicht für unnormal, sondern für kurz und sehr realistisch. Da sitzen vier Parteien zusammen, die vier Jahre vorher fast immer gegeneinander gearbeitet haben. Die Kultur, Philosophie und das politische Denken der Verhandlungsführer sind völlig unterschiedlich. Noch im Wahlkampf haben sie jeden Tag deutlich gemacht, was die anderen falsch machen. Jetzt müssen sie erst mal nach gemeinsamen Interessen fahnden und dann eine Basis finden. Wären die am Freitag nach bislang nur zwei intensiven Verhandlungen händchenhaltend mit einem Konsens rausgekommen, dann würden wir Bürger uns doch fragen, was nun die Wahrheit ist. Deshalb finde ich es klug, dass die sich Zeit nehmen und genau schauen, was für gute, dauerhaft tragende Kompromisse sie finden können. Für wasserdichte Lösungen können sie sich meines Erachtens auch noch länger Zeit lassen.
Aber es sind doch nur Sondierungen, also Vorgespräche, die richtigen Verhandlungen stehen doch noch aus ...
Sondierung ist der Prozess, später Kompromisse zu finden. Offensichtlich gab es vor der Wahl keinen Plan B, der eine Jamaika-Koalition wirklich vorgedacht, geschweige denn vorbereitet hat.
Ist es sinnvoll sich in einem Verhandlungsprozess einen so engen Zeitrahmen zu setzten, wie es gerade in Berlin geschieht?
In diesen Verhandlungen sind Interessen, Macht- und Personalfragen noch ungeklärt. Es ist denen noch nicht bewusst, dass die Vertreter der Parteien nur Interessensvertreter ihrer Wähler sind. Sie haben sich selbst mit dem engen Zeitrahmen eine Spannung geschaffen, der sie enorm unter Druck setzt. Allerdings kann so etwas auch positiven Stress verursachen, wenn es denn Gespräche ohne Angst sind. Denn Angst macht dumm. Sie können zunächst zu kleinen Entscheidungen motivieren, Sympathien schaffen und zu Euphorie führen um dann das große Ganze anzugehen. Schließlich erwartet die Bevölkerung auch Antworten - und da wir in Deutschland sind, soll es eben auch schnell gehen.
Bei den Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis vor Jahrzehnten war es sehr zielführend, dass die sich abgeschottet in Camp David getroffen haben. Ist es überhaupt sinnvoll, dass über Jamaika in Berlin sondiert wird statt an einem abgelegenen Ort?
Wir sind in Deutschland mit dieser Art von Verhandlungen vertraut. Es würde uns verstören, wenn die Politiker sich auf einer schönen Insel treffen, erst mal gemütlich Kaffee, dann Wein trinken und dann sagen würden, wir waren Gegner und jetzt wollen wir Partner werden. Diesen Zwischenschritt gibt es nicht in der deutschen Verhandlungsstruktur. Hier geht man ohne Versöhnungs- und Ruhephase vom Kampf direkt in die Verhandlung. Sinnvoll wäre etwas anders, aber diese Bundespolitiker sind natürlich Profis und kommen damit klar.
Was würden Sie den Emissären empfehlen, wenn es wirklich zu Koalitionsverhandlungen kommen wird?
Nehmen Sie sich Zeit, Ruhe, Entspannung. Nehmt einmal die Position des Gegenübers ein, nehmt Euch anders wahr, damit ihr mögliche Kompromisse überhaupt sehen könnt! Ein Ortswechsel ist dabei immer gut, weil andere Orte auch andere Bedeutungen haben und den Kopf freimachen können.
Wenn man an einen Punkt kommt, an dem es nicht mehr weitergeht, was macht man dann?
Ich hole mir dann Experten dazu und lasse mir alle Aspekte erklären. Es muss ja am Anfang nicht immer "Ja" oder "Nein" sein, sondern man kann zunächst auch nach dem "sowohl als auch" fahnden. Ich würde mir also in einer solch festgefahrenen Situation bei der Suche nach kreativen Ideen Hilfe von außen suchen, statt weiterhin auf harten Positionen zu beharren.