Süddeutsche Zeitung

Misstrauensvotum:Warum May wohl weiterregieren kann

Lesezeit: 3 min

Die Premierministerin wird das Misstrauensvotum am Abend voraussichtlich überstehen. Selbst Gegner stärken ihr aus taktischen Gründen den Rücken. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Thomas Kirchner

Das Chaos in London geht weiter, wie bisher lassen sich die Ereignisse, wenn überhaupt, nur grob vorhersehen. Premierministerin Theresa May hat eine verheerende Niederlage kassiert im Parlament - und das in der entscheidenden Frage ihrer Regierungszeit, einer Schicksalsfrage für das Land. In einer normalen Welt wäre May nun politisch am Ende und die Opposition am Zug. Aber beim Brexit ist nichts normal. Eine Übersicht.

Was ist der nächste Schritt?

Unmittelbar nach dem Votum vom Dienstagabend, das May mit 432 zu 202 Stimmen verlor, kündigte Labour-Chef Jeremy Corbyn ein Misstrauensvotum an. May selbst hatte fast darum gebeten. Angesichts "des Ausmaßes und der Wichtigkeit" ihrer Niederlage akzeptiere sie jegliche Infragestellung ihrer Position, sagte sie. Über den Labour-Antrag wird das House of Commons am Nachmittag debattieren und gegen 20 Uhr (MEZ) abstimmen.

Wie funktioniert das Misstrauensvotum?

2011 wurden die Regeln für solche Voten geändert, um vorgezogene Neuwahlen zu erschweren und die Wähler möglichst nur alle fünf Jahre an die Urnen zu rufen. Bis dahin hatten Premierminister nach Belieben eine Neuwahl ansetzen können. Nun geht das nur noch, wenn sich entweder mindestens zwei Drittel der Unterhaus-Mitglieder dafür aussprechen oder wenn ein Misstrauensantrag gestellt wird. Gewönne Labour, würde nicht sofort eine Neuwahl ausgerufen. Vielmehr erhielte die Regierung 14 Tage Zeit, um das Vertrauen des Parlaments zurückzugewinnen. Alternativ könnte eine andere Regierung gebildet werden. Erst wenn beides nicht gelingt, müssten die Wähler ran, nach einer Vorbereitungszeit von mindestens 25 Arbeitstagen.

Warum kann May aber vermutlich weiterregieren?

Corbyn hat die Liberaldemokraten, die schottische SNP, die Grünen und die walisische Partei Plaid Cymru auf seiner Seite. Er braucht aber auch die Hilfe konservativer Rebellen. Doch obwohl 118 Tories gegen den Vertrag mit der EU stimmten, werden wohl nur ganz wenige May stürzen wollen. Welchen Sinn sollte es aus ihrer Sicht auch haben, Labour an die Regierung zu verhelfen. Entsprechend haben sich die Brexit-Hardliner um Jacob Rees-Mogg und seine European Research Group geäußert. Selbst Mays Erzgegner Boris Johnson stärkt ihr - mehr aus taktischen Gründen als aus Neigung - den Rücken. May habe nun ein "massives Mandat" erhalten, um abermals nach Brüssel zu fahren und mit der EU über ein besseres Angebot zu verhandeln. Auch die zehn Abgeordneten der nordirischen DUP, die Mays Minderheitsregierung stützen, würden für die Premierministerin stimmen, kündigte ihr Fraktionschef Nigel Dodds an. Die Regierung habe noch immer die Möglichkeit, das Ergebnis des Brexit-Referendums in die Tat umzusetzen, sagte er der BBC. Sie müsse nur das Problem mit der Auffanglösung für Nordirland aus der Welt schaffen.

Es kommt hinzu, dass Labour keine echte Alternative zu Mays Deal vorlegen kann, sondern allzu offensichtlich auf einen Machtwechsel hinarbeitet. Corbyn gehört zu jenen im Parlament, die noch immer behaupten, zu glauben, dass die Briten in weiteren Verhandlungen mit der EU noch mehr für sich herausholen könnten. Die EU-Spitze hat glaubwürdig versichert, dass diese Hoffnung trügt. Corbyn müsse sich endlich entscheiden, kommentiert der Guardian: für einen Verbleib in der EU, und für ein zweites Referendum. Nur so lasse sich die Balance in der Debatte noch entscheidend verändern.

Wie geht es weiter, wenn May gewinnt?

Dann will sich die Premierministerin mit führenden Abgeordneten des Parlaments zusammensetzen und in "konstruktivem Geist" einen Plan B ausarbeiten, der mehrheitsfähig sein könnte. In London, wohlgemerkt. Es ist zu bezweifeln, dass dabei ein Vorschlag herauskommt, dem auch die EU zustimmen wird. Am Ende wird immer wieder das Irland-Problem stehen. Die EU kann nicht zulassen, dass wieder eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland entsteht. Deshalb kann eine Auffanglösung, die dies bei einem eventuellen Scheitern der bevorstehenden Gespräche über die künftigen Beziehungen verhindern würde, aus ihrer Sicht niemals befristet sein. Genau das aber fordern viele Tories, um nicht dauerhaft in die "Gefangenschaft" der EU zu geraten. Bisher hat noch niemand eine Lösung vorgeschlagen, mit der beide Seiten leben könnten.

Einen neuen Vorschlag müsste May spätestens Montag präsentieren. Das Parlament könnte ihn anschließend "verbessern", das heißt auch mit Ideen anreichern, die zu Bürgerversammlungen und/oder einem neuerlichen Referendum führten. Inwiefern die Abgeordneten May das Heft komplett aus der Hand nehmen dürfen, hängt stark vom Parlamentspräsidenten, Speaker John Bercow, ab. Parallel ruft die Labour Party die Öffentlichkeit schon zu Unterschriften für eine Neuwahl auf.

Kommt nun das zweite Referendum?

Wohl eher nicht. Dafür sehe er im Moment keine Mehrheit im Parlament, sagte der britische Botschafter in Berlin, Sebastian Wood, im ZDF-"Morgenmagazin". Zudem zeigten Umfragen, dass es in der britischen Bevölkerung keinen Stimmungswandel gebe. "Der Wille des Parlaments bleibt, den Brexit durchzuführen." May wird also weiterkämpfen für einen irgendwie geregelten Brexit. Die Zeit arbeitet für sie. Scheitern alle Verhandlungen, kommt es am 29. März zu einem chaotischen Ausstieg aus der EU. May setzt anscheinend darauf, dass diese Aussicht ihre Gegner am Ende doch noch zur Räson bringt. "Die stärkste Karte in ihrer Hand bleibt, dass niemand einen Vorschlag hat, der bessere Chancen hat, eine Mehrheit zu bekommen", sagt Wood.

Es ist ein riskantes Spiel, ein "chicken game" wie in jenem Film mit James Dean, in dem zwei Autos auf den Abgrund zurasen: Wer als Erster aussteigt, hat verloren. Aber vielleicht sind am Ende alle tot. Auf Deutsch heißt der Film: "Denn sie wissen nicht, was sie tun."

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