Süddeutsche Zeitung

Demo vor dem Mauerfall:Der Tag, an dem die Demokratie im Osten geboren wurde

Am 4. November 1989, wenige Tage vor Mauerfall, lernten Hunderttausende DDR-Bürger, was Demokratie bedeutet.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Geht das eigentlich, gleichzeitig die eigene Gänsehaut zu spüren und große Angst; aber auch eine leuchtende Zuversicht und die innere Gewissheit, dass jetzt alles genau richtig ist? Ja, das geht, und die Wucht des Tages, an dem alles Mögliche an Emotionen zu spüren war, kommt jetzt zurück in die Erinnerung. Es war der 4. November 1989, als Hunderttausende in Ostberlin auf dem Alexanderplatz friedlich die DDR-Diktatur verabschiedeten. Und sich wie selbstverständlich das Recht auf Meinungsfreiheit nahmen. Sie redeten und hörten zu, man weiß heute: Es war der Tag, an dem die Demokratie im Osten geboren war.

Es gibt gute Gründe, das Gedenken an diesen glücklichen Tag vor dreißig Jahren hochzuhalten. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass damals Hirn und Herz parallel erfühlten, dass die freie Meinungsäußerung eine der essenziellen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft ist. Es klingt fast schon verrückt, dass sich der Osten damals noch unter den Bedingungen einer Diktatur das Recht ergriff, von dem heute in der etablierten Demokratie der Bundesrepublik fast zwei Drittel der Bevölkerung glauben, dass es nicht mehr uneingeschränkt zu praktizieren ist: dass man offen seine Meinung sagen kann; dass zugehört wird und man sich mit Argumenten Andersdenkender auseinandersetzt.

Pfiffe und Buhrufe, aber keine Spur von dem Hass, den es heute gibt

Wie wäre es, wenn sich all jene, die sich jetzt so ostentativ um die freie Meinungsäußerung sorgen, mal anschauen, wie das damals war? An jenem 4. November stand auf dem Alexanderplatz ein zur provisorischen Bühne umgebauter Lkw. Das Besondere war nicht nur, dass von dort oben die friedlichen Revolutionäre frei sprachen. Sondern, dass die Hunderttausenden auch denjenigen zuhörten, die die Diktatur lange am Laufen gehalten hatten - und sich trauten, auf den Wagen zu klettern. Es redeten die Schriftsteller Stefan Heym und Christa Wolf, aber auch der langjährige Auslandsgeheimdienstchef Markus Wolf. Es sprachen der junge Schauspieler Jan Josef Liefers und der Rechtsanwalt Gregor Gysi - und auch Günter Schabowski, jener Genosse, der fünf Tage später die Mauer für geöffnet erklären würde. Ja, es gab Pfiffe und Buhrufe, aber von dem Hass, der heute viel zu oft durchs Netz und die Debatten rauscht, war nichts zu spüren.

Man hörte zu, weil man gemeinsam danach suchte, wie es weitergehen sollte. Diese frohe Zuversicht ist verschütt gegangen; die Kraft des nachdenklichen Wortes hat an Wucht verloren. Heute geht es zu oft darum, selbst bestätigt werden zu wollen. Die Kultur des aufmerksamen Zuhörens ist in der schnelllebigen Gesellschaft kaum noch en vogue. Wie oft beendet das Klingeln des Mobiltelefons ein persönliches Gespräch. Und noch schlimmer: Wer stört sich noch daran?

Meinungsfreiheit setzt Reife um Umgang mit ihr voraus

Der 4. November bietet Gelegenheit, an Grundsätzliches zu erinnern. Dass nämlich die schwer erkämpfte Freiheit der offenen Meinungsäußerung das eine ist; dafür die Verantwortung zu übernehmen, ist das andere. Man kann eben nicht einfach seinen Hass durch das Netz schicken und danach, wenn andere Menschen dadurch zu Schaden kommen, sich rausreden, man habe ja nur mal sagen wollen, was man denke. Es geht immer auch darum, andere Menschen und damit die Freiheit der Andersdenkenden zu respektieren.

Meinungsfreiheit setzt Reife im Umgang mit ihr voraus. Sie stößt an ihre Grenze, wo sich die Menschen weigern, Verantwortung zu übernehmen. Die Erinnerung an den 4. November ist zugleich Mahnung, dass der damals geborene freie Dialog geschützt und gepflegt werden muss.

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Quelle:
SZ vom 04.11.2019
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