Süddeutsche Zeitung

Mauergedenktag:"Auch Grenzsoldaten können Opfer sein"

Maria Nooke, stellvertretende Leiterin der Mauergedenkstätte, über den schwierigen Umgang mit im Dienst getöteten Grenzsoldaten der DDR.

T. Denkler

Maria Nooke ist stellvertretende Leiterin der Berliner Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße, die zum zentralen Mauergedenkort der Bundesrepublik ausgebaut wird. Sie hat in dieser Woche mit anderen das biographische Handbuch "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 - 1989" vorgestellt, in dem auch acht im Dienst getötete Grenzsoldaten aufgeführt werden.

sueddeutsche.de: Frau Nooke, unter den 136 Opfern an der Berliner Mauer sind auch acht Grenzsoldaten. Sind das Opfer wie alle anderen?

Maria Nooke: Ja und Nein. Da ihr Tod im kausalen und lokalen Zusammenhang mit dem Grenzregime und einem Fluchtgeschehen stand, entsprechen sie unseren wissenschaftlichen Kriterien und werden somit zu den Opfern der Mauer gezählt.

Sie waren jedoch in ihrer Funktion als Grenzsoldaten mit dem Auftrag, jede Flucht über die Sperranlagen zu verhindern, direkt in das Grenzregime eingebunden. Ein Grenzer hat somit das System gestützt und war mitverantwortlich für das, was an der Mauer geschehen ist.

sueddeutsche.de: Helfer einer Tunnelflucht, bei der der Grenzsoldat Egon Schulz 1964 erschossen wurde, haben später versucht, den Angehörigen folgende Botschaft zu übersenden: "Der eigentliche Mörder ist das System." Ist es so einfach?

Nooke: Die Frage nach der Schuld ist nie einfach, sie ist immer auch eine Frage nach der Verantwortung des einzelnen Menschen für sein Handeln. Auch in einem Unrechtssystem muss man sich dieser Frage stellen - Grenzsoldaten ebenso wie Flüchtlinge oder Fluchthelfer.

Wer eine Diktatur verstehen will, der muss wissen, wie sie funktioniert, wie sie auf die Menschen gewirkt hat, welchen Spielraum die Menschen hatten und was aus ihrem Tun oder Nichttun folgte. Wer das für die DDR verstanden hat, kann die getöteten Grenzer auch als Opfer dieses Systems sehen.

Selbst Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, stellte fest, für den Tod von Grenzsoldaten sei das Grenzregime zu verachten und verantwortlich zu machen. Letztlich verantwortlich waren natürlich die Auftraggeber der SED-Führung, die jede Flucht aus der DDR verhindern wollten, um das System zu stabilisieren.

sueddeutsche.de: Was haben Sie bei der Beschäftigung mit Grenzsoldaten über das Verhältnis Täter-Opfer gelernt?

Nooke: Zunächst einmal, dass Grenzsoldaten sehr unterschiedlich reagiert haben. Einige haben mit Absicht daneben geschossen, andere haben gedanken- oder auch skrupellos den Befehl ausgeführt, den sie täglich bekommen haben: Grenzverletzter festzunehmen oder zu vernichten.

Die Bandbreite ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen ist groß. In einem Fall hat ein fahnenflüchtiger Offiziersschüler erst einen nichts ahnenden Grenzposten aus nächster Nähe erschossen, bevor er selbst erschossen wurde. Das sind tragische Fälle, weil flüchtende Soldaten in Kauf genommen haben, sich den Weg möglicherweise freizuschießen. Da haben wir zugleich Täter- und Opferbiographien.

sueddeutsche.de: Der Beirat der Gedenkstätte Berliner Mauer hat entschieden, dass die im Dienst getöteten Grenzsoldaten nicht in das geplante "Fenster des Erinnerung" aufgenommen werden sollen, mit dem der Maueropfer gedacht werden soll. Dürfen im Tod nicht alle Opfer gleich sein?

Nooke: Die Entscheidung hat sich niemand leicht gemacht. Es wurden viele Fragen aufgeworfen. Welche Rolle spielten die Grenzsoldaten im System? Wie kam man an die Grenze, konnte man sich dagegen wehren? Woher wissen wir, ob der getötete Grenzer sich nicht auch mit Fluchtgedanken getragen hat oder im Ernstfall daneben schießen wollte?

Welche Botschaft vermittelt die Gedenkstätte, wenn sie die getöteten Grenzer mit den anderen Opfern gleichsetzt? Kann man den Angehörigen zumuten, dass Gesichter und Namen von getöteten Grenzsoldaten in diesem "Fenster der Erinnerung" neben ihrem Sohn, ihrer Tochter oder ihrem Bruder stehen, die von Grenzern erschossen wurden? Auf der anderen Seite stellte sich die Frage: Was bedeutet es für die Angehörigen der getöteten Grenzsoldaten, wenn ihrer nicht gedacht wird?

Diese Fragen sind ausführlich und lange besprochen worden, es gab ganz unterschiedliche Positionen dazu. Der Fachbeirat hat mehrheitlich dafür plädiert, diese Grenzsoldaten aus dem "Fenster der Erinnerung" herauszunehmen, da sie in ihrer Funktion als Bewacher der Grenze letztlich das entscheidende Werkzeug der Diktatur gewesen sind. Die acht Grenzsoldaten sollen aber in unmittelbarer Nähe Erwähnung finden.

Grenzern, die sich gegen ihren Auftrag gewandt haben, sich für eine Flucht entschieden haben, wird zugestanden, dass sie sich aus diesem System herausbegeben haben und damit zu würdigende Opfer der Teilung wurden - auch wenn sie dabei die Waffe benutzten. Sie werden in dem Fester zu sehen sein.

sueddeutsche.de: Ist es richtig, zwischen würdigen und unwürdigen Opfern zu unterscheiden?

Nooke: Das ist eine Frage, die man nicht wissenschaftlich beantworten kann. Sie bleibt der gesellschaftlichen Diskussion vorbehalten.

In der DDR wurden die Flüchtlinge als Verbrecher hingestellt und die Grenzsoldaten als Helden verehrt. Angehörige des von einem geflüchteten Kameraden getöteten Soldaten Ulrich Steinhauer sagen heute, dass die DDR-Führung ihnen ihren Bruder im Grunde zum zweiten mal genommen hat, indem ihnen untersagt wurde zu entscheiden, wo die Grabstätte sein soll. Ihnen wurde untersagt, das Grab zu pflegen. Sie mussten zulassen, dass am Grabmal ihres Bruders offizielle Gedenkveranstaltungen abgehalten wurden.

Erst nach dem Ende der DDR konnten sie einen eigenen Grabstein aufstellen. Für sie ist es eine schlimme Entscheidung, dass im "Fenster der Erinnerung" kein Platz für ihren Bruder sein soll.

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