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Barbara Galaktionow
Willkommen zu unserem historischen Liveblog!
Der 9. November 1989 brachte in der deutschen Geschichte einen fundamentalen Wandel: die Öffnung der DDR-Grenzen und der Berliner Mauer. Am Morgen dieses historischen Tages ist das noch nicht abzusehen. Die Regierung und die Staatspartei SED stehen allerdings bereits unter massivem Druck.
Die Bürger- und Protestbewegung in Ostdeutschland ist seit den manipulierten Kommunalwahlen im Mai drastisch angewachsen. Zuletzt geben am 4. November Hunderttausende Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz ihrem Unmut über das verknöcherte System Ausdruck - so viele wie nie zuvor. Auch der Strom der DDR-Bürger, die in den Westen flüchten, reißt nicht ab. Innerhalb von nur einer Woche haben 50 000 Menschen dem Staat den Rücken gekehrt. Die Tschechoslowakei, über die die meisten Flüchtenden nach Westdeutschland ausreisen, zeigt sich nicht mehr bereit, diese Last zu tragen. Die wirtschaftliche Lage der DDR ist desolat.
Am Mittwoch, 8. November, beginnt das Zentralkomitee der SED mit einer dreitägigen Sitzung. Auf dieser will die Partei versuchen, der Lage Herr zu werden. Die Themen: eine Umgestaltung des Politbüros, eine ehrliche Schilderung der Wirtschaftssituation, ein Aktionsprogramm für mehr Demokratie und - neue Reisebestimmungen.
Verfolgen Sie bei uns, warum der Tag ganz anders verlief, als die DDR-Führung sich das vorstellt - und welche unmittelbaren Folgen und Reaktionen sich daraus ergaben.
Barbara Galaktionow
Großer Wurf fürs Reiserecht
Am Morgen kommt in Ost-Berlin eine vierköpfige Arbeitsgruppe von führenden Mitarbeitern des Innenministeriums und der Stasi zusammen. Ihr Auftrag: sie sollen eine Regelung für das "ČSSR-Problem" erarbeiten - sprich, die ständige Ausreise aus der DDR regeln. In diesem Punkt sind sie sich einig: alle Einschränkungen sollen künftig entfallen. Über ihren eigentlichen Auftrag hinaus beschließen sie dann jedoch auch, die Frage von Privatreisen ebenfalls gleich in dem Ministerrats-Beschluss zu regeln, um so einer möglichen Ausreisewelle vorzubeugen. Die Privatreisen sollen künftig "ohne Vorliegen von Voraussetzungen" möglich sein - jedoch nur mit Reisepass und Visum. Auf diese Weise sollen die Reisen kanalisiert und ein unmittelbarer Ansturm auf die Grenzen verhindert werden.
Barbara Galaktionow
Achtung: Sperrfrist!
Die Ministeriumsmitarbeiter legen als Sperrfrist für die Veröffentlichung der neuen Reiseregelung den 10. November um 4 Uhr früh fest. Erst zu diesem Zeitpunkt soll die staatliche Nachrichtenagentur der DDR, ADN, den Text veröffentlichen dürfen.
Barbara Galaktionow
Wie bloß die Genossen befrieden?
SED-Generalsekretär Egon Krenz und Politbüromitglied Günter Schabowski sprechen am 8. November 1989 in Berlin mit SED-Mitgliedern, die gegen die Politik ihrer Partei demonstrieren.
Foto: Reuters / Michael Probst
Barbara Galaktionow
Der zweite Sitzungstag des ZKs der SED beginnt
Der erste Sitzungstag am Mittwoch war chaotisch verlaufen. SED-Generalsekretär Egon Krenz hatte die dreitägige Sitzung mit einem Rücktritt und der teilweisen Neubesetzung des Politbüros begonnen. Der Plan, damit zumindest die Partei zu befrieden, ging nicht auf: Am Nachmittag demonstrierten Zehntausende SED-Mitglieder gegen die Parteispitze. Ein schonungsloser Bericht von Krenz über die hohe Westverschuldung der DDR verstört die Genossen - viele sehen sich über Jahre hinweg belogen und geben ihrer Empörung und Bestürzung auch am zweiten Sitzungstag deutlichen Ausdruck.
Barbara Galaktionow
Reiseregelung geht in die Abstimmung
Der vom Innenministerium und der Stasi erarbeitete Entwurf für neue Reisebestimmungen wird gegen Mittag dem Politbüro vorgelegt, also dem Führungsgremium der SED. Im nur einen Tag zuvor neu aufgestellten Politbüro sind vehemente Gegner einer generellen Reiseregelung nun nicht mehr vertreten. Egon Krenz stellt den Entwurf den Mitgliedern in einer Raucherpause vor. Ihm zufolge ist das Vorhaben mit der sowjetischen Seite abgesprochen - was so allerdings nur teilweise zutrifft. Moskau hat nämlich nur einer deutlich schmalspurigeren Lösung zugestimmt. Die SED-Führung nimmt den Beschluss an. Günter Schabowski, der die neue Regelung am Abend auf der Pressekonferenz vorstellen wird, ist bei der Besprechung nicht mit dabei.Barbara Galaktionow
Reise-Entwurf geht an den Ministerrat
Nach der Zustimmung des SED-Politbüros wird die neue Reiseregelung an den Ministerrat weitergeleitet. Im Umlaufverfahren soll die Beschlussvorlage "bis heute, Donnerstag, den 9. November 1989, 18:00 Uhr" bestätigt werden. Schweigen bedeutete dabei Einverständnis. Das Problem dabei: Wie der Historiker Hans-Hermann Hertle gezeigt hat, waren an diesem Nachmittag 29 der 44 Minister nicht in ihren Ministerien zu erreichen, sondern nahmen als Mitglieder oder Kandidaten des ZK an dessen Beratungen teil. Barbara Galaktionow
Die angebliche Zustimmung Moskaus
Die Reisebestimmungen seien mit der Sowjetunion abgestimmt, behauptete Krenz kurz vor dem Politbüro-Beschluss - eine sehr weit ausgelegte Sichtweise. Gegen Mittag informieren sowjetische Diplomaten in Berlin die Staats- und Parteiführung tatsächlich darüber, dass es im souveränen Bereich der DDR liege, über Grenzregime selbst zu entscheiden. Die DDR hatte zuvor tagelang auf eine Zustimmung der Führung in Moskau gedrängt - allerdings für eine sehr viel kleinere Lösung, die in der sowjetischen Botschaft offenbar als "Projekt Loch-in-der-Grenze" kursierte. Demnach hatte die DDR aber nur von einem Sondergrenzübergang im Süden des Staates gesprochen. Von einer weitreichenderen Grenzöffnung, gar der Öffnung der Berliner Mauer, die ja auch den Vier-Mächte-Status der Stadt berührte, war nicht die Rede gewesen. Zudem ging es offenbar nur um dauerhafte Ausreisen, nicht um eine Regelung für Reisende.
Barbara Galaktionow
Unerwartete Wendung
Nicht nur für die DDR-Regierung und die SED-Führung kommt der Umbruch, der sich am Abend des 9. November ereignen wird, ziemlich überraschend. SZ-Redakteurin Anette Ramelsberger, damals Ost-Berlin-Korrespondentin der Nachrichtenagentur AP, schildert, wie sie das letzte Jahr der DDR erlebte.
Barbara Galaktionow
Krenz und Rau sprechen über DDR-Flüchtlinge und das Wahlrecht
DDR-Staats- und SED-Chef Egon Krenz nutzt die Mittagspause der ZK-Tagung zwischen halb drei und halb vier für ein Treffen mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau (SPD). Auch hier geht es um die Fluchtbewegung nach Westen und das neue Reisegesetz, aber auch um das geplante neue Wahlgesetz in der DDR. Krenz, der die Verantwortung für die nachgewiesen manipulierten Kommunalwahlen vom Mai trug, sagt lächelnd: "Ich gehe davon aus, dass wir auch bisher keine unfreien Wahlen hatten." Rau gibt zu verstehen, so heißt es später in der "Tagesschau", dass seine Vorstellung von freien Wahlen und die von Krenz noch weit auseinanderlägen.
Barbara Galaktionow
"Wie wir's machen, machen wir's verkehrt"
Am Nachmittag stellt Krenz die vom Politbüro verabschiedete Beschlussvorlage für das neue Reisegesetz vor. Ganz zufrieden scheint er nicht zu sein: "Wie wir's machen, machen wir's verkehrt", sagt er. Doch macht er den Anwesenden deutlich, dass dies die einzige Lösung sei, um die Frage der Ausreisen nicht über Drittstaaten - vor allem die zunehmend unwillige Tschechoslowakei - zu regeln.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Beschlussvorlage ja bereits an den Ministerrat zur Zustimmung gegangen ist, nimmt das ZK noch Änderungen am Text vor und streicht die Worte "zeitweilige Übergangsregelung". Die ZK-Mitglieder befürchten, dass dies bei den DDR-Bürgern womöglich eher den Eindruck von Zeitdruck erwecken könnte, als für Beruhigung zu sorgen.
Barbara Galaktionow
Krenz hebt Sperrfrist en passant auf
Die Ministerien hatten die Veröffentlichung der neuen Reiseregelung ja auf den 10. November, 4 Uhr früh, festgelegt. Der SED-Generalsekretär bestimmt auf der ZK-Sitzung jedoch, dass der Regierungssprecher die Bestimmungen "gleich" der Öffentlichkeit vorstellen sollte. Am Ende wird das allerdings nicht der erst am 7. November bestimmte Regierungssprecher Wolfgang Meyer tun, sondern der ebenfalls gerade erst als solcher bestimmte ZK-Sprecher Günter Schabowski.
Philipp Saul
Schabowski-PK beginnt
Im Internationalen Pressezentrum in der Berliner Mohrenstraße beginnt die Pressekonferenz von Politbüromitglied Günter Schabowski. Er soll an allen drei Tagen der ZK-Sitzung, die am Tag zuvor begonnen hat, über den Fortgang der Beratungen berichten. Der Planung zufolge sollte die PK im Anschluss an die um 18 Uhr endende ZK-Sitzung stattfinden, die jedoch spontan verlängert wird.
dpa
Philipp Saul
Unverbindliche Ankündigungen
Für die Medienlandschaft in der DDR sind die Pressekonferenzen mit Schabowski eine neue Erfahrung. Dass ein Mitglied des Politbüros den direkten Fragen von nationalen und internationalen Journalisten Rede und Antwort steht, gab es in der DDR bislang nicht. Zudem werden die Pressekonferenzen live im Fernsehen übertragen. Am ersten Sitzungstag des ZK war die Spannung groß. Schabowski verkündete den Rücktritt des Politikbüros und dessen Neuwahl.
Die PK an diesem Donnerstag wirkt auf die Journalisten hingegen zunächst eher einschläfernd. Zwar wird deutlich, dass die SED die Lage der DDR inzwischen als kritisch erkannt hat, aber bei all den guten Absichten und Maßnahmen, die in der Konsequenz nun folgen sollen, bleibt Schabowski sehr unverbindlich. Es geht um Reformen von Gesellschaft, Partei und Wirtschaft, um die Ziele einer Parteikonferenz im Dezember und das neue Wahlgesetz.
Philipp Saul
War der Reisegesetzentwurf ein Fehler?
Gegen Ende der Pressekonferenz wird das Thema Reisefreiheit angesprochen. Es geht um den wenige Tage zuvor veröffentlichten Reisegesetzentwurf, wonach von Dezember an 30 Tage Auslandsurlaub und 15 Mark Reisedevisen pro Person und Jahr genehmigt werden sollen. Der Entwurf stößt in der Bevölkerung auf harsche Kritik. Demonstranten verlangen "365 Tage Reisefreiheit und nicht 30 Tage Gnade".
Riccardo Ehrman, ein italienischer Journalist von der Nachrichtenagentur Ansa, fragt in der PK , ob der Entwurf nicht ein Fehler war. Schabowski verneint die Frage und spricht über das "Bedürfnis der Bevölkerung, zu reisen oder die DDR zu verlassen". Er redet außerdem über die Situation der DDR-Bürger, die in den Westen geflohen sind. Wirkliche Neuigkeiten gibt es zunächst aber nicht.