Süddeutsche Zeitung

Mauerfall 1989:Privatisieren statt sanieren

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Der Fall der Berliner Mauer war ein historisches Datum - aber seine Folgen werden schöngeredet. Zwei Bücher melden leise Kritik an.

Franziska Augstein

Die deutsche Einheit soll heuer gefeiert werden, und sie wird gefeiert - nicht übertrieben, nicht nationalistisch, aber mit unbeirrbarem Willen. An den Kathedern und in Ministerialbüros, in den Redaktionen und in den Zirkeln der Einflussreichen wirkt der Geist von Doktor Pangloss: Die Vereinigung hätte nicht besser vonstatten gehen können, und folglich leben die Deutschen in der besten aller Welten.

Dr. Pangloss und sein Konsilium wollen nicht mehr wahrhaben, dass sich die Umstände der Einigung nicht zuletzt aus Helmut Kohls Bedürfnis ergaben, die Weichen für seine Wiederwahl zu stellen. Dafür war der Kanzler bereit, das Schiefe geradezureden und den Deutschen vorzumachen, die Einheit würde sie nichts kosten.

Sein Interesse war es nicht, sich mit Experten darüber zu beraten, wie man die Einheit zustande bringen könne, ohne dass die ostdeutsche Wirtschaft dabei zugrunde ging. Im Gegenteil: Die CDU hat damals das Vereinigungsstreben der Ostdeutschen mit aus Bonn herbeigeschafften Deutschlandfahnen und anderen Utensilien nach Kräften angeheizt.

Privatisieren vor Sanieren

Konsens ist, dass die Währungsunion schnellstmöglich habe herbeigeführt werden müssen, weil anderenfalls Fachkräfte in Scharen von Ost- nach Westdeutschland gestrebt hätten. Der Rat der Wirtschaftsweisen und der Chef der Bundesbank hatten sich gegen die überstürzte Währungsunion ausgesprochen. Denen wurde vorgehalten, dass ihre Einwände zwar berechtigt seien, nun aber das Politische wichtiger sei als die Ökonomie.

Auch wenn man konzediert, dass Helmut Kohls erstes Interesse verständlicherweise darin bestand, die Wahlen 1990 und 1994 zu gewinnen, könnte man doch heute zumindest fragen, ob der Kanzler klug gehandelt hat, als er darauf drang, dass die Treuhand sämtliche ostdeutschen Unternehmen bis Ende 1994 privatisierte.

Etliche Monate lang wurden bis zu 600 Unternehmen pro Tag verscheuert. In den Blättern für deutsche und internationale Politik hat Werner Rügemer, ein Fachmann für Wirtschaftskriminalität, 2005 festgestellt: Das Motto sei gewesen: "'Privatisieren geht vor Sanieren' ... Der Wettbewerb blieb ausgeschaltet." Die Käufer durften selbst angeben, für wie wertvoll sie die DDR-Unternehmen hielten.

Natürlich waren die DDR-Unternehmen nun offiziell so gut wie nichts mehr wert. In der Folge mussten die westdeutschen Steuerzahler die neuen Bundesländer in Billionenhöhe subventionieren. Und ostdeutsche Fachkräfte verlassen ihre Heimat nach wie vor in Scharen. Diese Dinge müssten anlässlich des Datums 20 Jahre Mauerfall erörtert werden. Es gibt auch Leute - unter ihnen viele Ostdeutsche -, die dazu in der Lage wären. Aber ihre Meinung ist selten gefragt.

Zu den besseren Publikationen, die des Mauerfalls gedenken, gehört der Sammelband "Revolution und Vereinigung". Der Wirtschaftshistoriker André Steiner stellt darin fest, die Einigung sei Ergebnis eines politischen Kompromisses gewesen, "der von den ökonomischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten weit entfernt war".

Ralf Ahrens zufolge war die Devisenbilanz der DDR zwar miserabel, doch sei ihr erst nach der Währungsunion der Rest gegeben worden: Der Export in westliche Länder brach schlagartig um ein Drittel ein, und die osteuropäischen Länder konnten sich die Bezahlung in harter D-Mark nicht mehr leisten.

Der omnipräsente Theologe Richard Schröder wurde eingeladen, auch einen Kommentar zu verfassen. Schröder ist der Auffassung, "der Alltag unter den beiden Diktaturen" - er meint das SED-Regime und die Hitler-Diktatur - sei "leider doch sehr ähnlich gewesen, ob das nun passt oder nicht".

Ein einziges sachliches Argument trägt Schröder vor, um seine Ansicht zu begründen: Die Ähnlichkeit ergebe sich daraus, dass die Nazis nur zwölf Jahre lang herrschten, wohingegen die SED 45 Jahre Zeit gehabt habe, die Menschen nach ihrem Bild zu formen. Mehr sagt Schröder nicht, seine Argumentation ist ein bisschen dürftig.

Schröder unterschlägt die große Wandlung, die die DDR zeit ihres Bestehens durchgemacht hat. In den fünfziger Jahren herrschten noch stalinistische Verhältnisse. Nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 hatten die Bonzen begriffen, dass sie ihrem Volk einen halbwegs ordentlichen Lebensstandard ermöglichen mussten, wenn sie Ähnliches nicht abermals erleben wollten. Spätestens seit Ende der sechziger Jahre konnte die SED-Führung sich nicht mehr alles leisten.

Die Bundesrepublik regierte in der DDR ein bisschen mit: Die Entspannungspolitik und das Westfernsehen, das viele Untaten - für fast alle DDR-Bürger sichtbar - anprangerte, bewogen die SED-Regierung zur Moderatheit in der Ausübung ihrer diktatorischen Gewalt. Entscheidend war aber, dass die SED über ein Volk von Unzufriedenen herrschte. "Gerade weil die SED-Spitze alles in der Hand behalten wollte", schreibt Detlef Pollack, "hatte sie die Mehrheit der Bevölkerung tendenziell gegen sich." Hitler und Stalin hatten ihr Volk an der Kandare. Die DDR-Bevölkerung dachte unabhängig von ihrer Regierung.

Bitte ohne Klassenkampf

Der Satiriker Peter Ensikat hat einmal gesagt: "Anstelle von Meinungsumfrageinstituten hatte die DDR die Stasi."

Die Bemerkung ist nicht nur witzig gemeint. Tatsächlich trug die Stasi die Unmutsäußerungen in der Bevölkerung zusammen. Heute wird die DDR von Leuten wie Joachim Gauck und Marianne Birthler als ein Land dargestellt, in dem - mit Ausnahme der Dissidenten - niemand sich einen Mucks zu machen traute. In der Wirklichkeit sah das anders aus, wie Jens Gieseckes Aufsatz belegt.

Giesecke hat die Berichte von der Stimmungslage der Bevölkerung gesichtet, welche die Stasi für die Regierung regelmäßig anfertigte. Sein Ergebnis: Die Auswertungseinheiten der Stasi plädierten im Herbst 1989 schon deshalb nicht für den bewaffneten Einsatz gegen die eigene Bevölkerung, weil sie wussten, wie sehr der Ärger der Leute über ihre Regierung im Lauf der Zeit angewachsen war.

Der Sammelband "Revolution und Vereinigung 1989/1990" enthält 37 Artikel über alle Aspekte des Umsturzes von 1989. Nicht nur, was sich in der DDR damals zutrug, wird beleuchtet, sondern auch, wie die Bundesrepublik und andere Länder reagierten. Ein paar Autoren kommen zu Wort, die vor allem ihre Meinung verbreiten.

Die Mehrzahl der Artikel ist sachlich fundiert. In seiner Einleitung fasst der Herausgeber Klaus-Dietmar Henke prägnant zusammen, welche Umstände dazu führten, dass das SED-Regime das Zeitliche segnete. Man sieht dem Band an, dass Henke bemüht war, das Meinungsspektrum abzudecken. Er wollte sich vielleicht nicht nachsagen lassen, dass seine Auswahl einseitig sei.

Was geschieht, wenn man sich nicht in dieser Weise "politisch korrekt" verhält, mussten die Herausgeberinnen eines anderen Buches erleben. "Mein Land verschwand so schnell..." ist aus einer Lehrveranstaltung an der Universität Jena hervorgegangen: Die Studenten führten Interviews mit Ostdeutschen, die von ihrem Leben in der DDR erzählen und davon, wie sie das Ende der DDR wahrnahmen. Ursprünglich hatte die Thüringer Landeszentrale für politische Bildung zugesagt, diesen Band mit sechzehn Gesprächen zu veröffentlichen.

Doch das Manuskript war der Landeszentrale politisch nicht recht. Der Betreuer des Projekts monierte, dass einige Befragte Wörter wie "Kapitalismus" und "Klassengesellschaft" benutzten. Anstelle von "Kapitalismus" sollten die Herausgeberinnen das Wort "Marktwirtschaft" einsetzen, das Wort "Klassengesellschaft" dürfe überhaupt nicht vorkommen. Auch kritische Äußerungen über den Verlauf des Umsturzes 1989 und die Wiedervereinigung sollten gestrichen werden. Außerdem bemängelte die Landeszentrale, dass zu viele ehemalige SED-Mitglieder befragt worden seien.

Die sechzehn Gespräche sind allesamt sehr lesenswert. Sie zeigen, was oral history vermag: Mit einfühlsamen, klugen Fragen haben die Studenten ihre Gesprächspartner dazu animiert, anschaulich darzustellen, was es hieß, in diesem Staat zu leben, der 1990 zu existieren aufhörte.

Dem Weimarer Taschenbuchverlag ist zu danken, dass dies Buch am Ende doch noch erschienen ist. Übrigens: Die Bundeszentrale für politsche Bildung, die unabhängig von ihrem Ableger in Thüringen agiert, hat tausend Exemplare des Buches bestellt.

KLAUS-DIETMAR HENKE (Hrsg): Revolution und Vereinigung 1989/90. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 734 Seiten, 19,90 Euro.

AGNÈS ARP, ANNETTE LEO (Hrsg.): Mein Land verschwand so schnell. 16 Lebensgeschichten und die Wende 1989/90. Weimarer Taschenbuch Verlag, Weimar 2009. 216 Seiten, 14, 90 Euro.

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SZ vom 2. Oktober 2009/odg
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