Italien:Nur unbequeme Wahrheiten

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Die Politik schmückt sich mit dem Erfolg der Fahnder: Premierministerin Giorgia Meloni reiste eilends nach Palermo, um den Mafia-Ermittlern zu danken. (Foto: Presidenza del Consiglio/IMAGO/ZUMA Press)

Italiens Politik streitet, wem die Glorie gebührt für Matteo Messina Denaros Verhaftung - und wie künftig nach Mafiabossen gefahndet werden soll. Cosa Nostra ist stiller geworden, ungefährlicher nicht.

Von Oliver Meiler, Rom

Singt er? Packt er aus? Und was wäre dann wohl los in Italien?

Seit der Verhaftung von Matteo Messina Denaro, dem Superboss von Cosa Nostra, am Montag fragen sich die Italiener, ob ihnen dieser Sizilianer, der lächelte, als man ihn abführte, bald einmal ein Stück ihrer neueren Geschichte erklären wird. Unbequeme Wahrheiten. Wird er ihnen zum Beispiel erzählen, wie die Mafia auch mal mit dem Staat verhandelt, die Unterwelt mit der Oberwelt? Nennt er die Namen jener Leute, wohl auch prominente, die ihm halfen, sich 30 Jahre lang zu verstecken - daheim, in Campobello di Mazara?

Sehr wahrscheinlich ist das nicht, der Mythos der ganz großen Bosse lebt ja davon, dass sie schweigen. Aber so sicher lässt sich das in diesem Fall nicht sagen. Messina Denaro war immer ein atypischer Boss. Gnadenlos im Umgang mit seinen Rivalen, aber auch Lebemann. Verliebt in seinen Lifestyle, seine teuren Kleider und Uhren. Jetzt ist er 60 Jahre alt, krebskrank, er sitzt im Hochsicherheitsgefängnis von L'Aquila in den Abruzzen, 1026 Kilometer entfernt von Campobello di Mazara. Verwahrt nach Artikel "41-bis", dem härtesten Haftregime Europas.

Carabinieri vor dem Haus in Campobello di Mazara, in dem Matteo Messina Denaro zuletzt wohnte. (Foto: ANTONIO PARRINELLO/REUTERS)

Und daheim finden die Ermittler fast jeden Tag ein neues Versteck aus der Zeit seiner vermeintlichen Flucht, es sind mittlerweile schon drei. In einer dieser "Höhlen", wie die italienischen Medien die Unterschlupfe nennen, obschon es einfach Wohnungen sind, hing ein Bild von Marlon Brando, gemalt in Öl: als Don Vito Corleone im Film "Der Pate". Der wahre Pate spiegelte sich also im fiktiven. Die Polizei fand auch Notizbüchlein, eine Buchhaltung der kleinen Ausgaben samt Kassenzettel, eine Liste mit Namen und Nummern, natürlich kodifiziert. Ob das alles ist? Die Ermittlungen haben eben erst begonnen, doch die italienische Politik zerfleischt sich bereits.

Euphorische Hymnen auf den Staat, dann begann das Zerfleischen

Zunächst war es wie immer: Nach der Festnahme gab es euphorische Hymnen auf den Staat. Der habe mal wieder gezeigt, wie stark er sei. Die Rechte wies darauf hin, dass zuletzt immer sie an der Regierung war, wenn ganz große Bosse verhaftet wurden. Das ist Zufall: Die Mafiajäger, die Staatsanwälte und die Carabinieri richten ihre Fahndung nicht nach Wahlsiegern und Legislaturperioden aus. Manche von ihnen werden mit den Bossen alt, die sie suchen. Man sieht das jeweils bei den Pressekonferenzen nach Verhaftungen: alles graue, müde, glückliche Männer.

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Aber tatsächlich fielen die jüngsten Fänge in Zeiten, da die Rechte regierte, der Triumph war also nicht verwegen. Und so warfen manche linke Oppositionspolitiker die Frage auf, ob Messina Denaro sich gestellt haben könnte, ob er womöglich einen Deal mit dem Staat geschlossen habe, weil es einfach nicht mehr ging, dieses komplizierte Leben mit dem Krebs. Die These traf nicht nur die politischen Kontrahenten, sondern auch die Fahnder, mit denen sie gerade einige Kämpfe teilen.

Die Rechte will Abhöraktionen beschränken. Die Mafiajäger sind besorgt

Die rechte Regierung war nämlich gerade dabei gewesen, die Praxis der Telefonüberwachung einzuschränken. Justizminister Carlo Nordio findet, die sei zu teuer, sie werde viel zu oft angewandt, und oftmals gelangten die Protokolle zu den Medien. Nur, ohne abgehörte Telefone ist der organisierten Kriminalität nicht beizukommen. Maurizio De Lucia, Oberstaatsanwalt von Palermo und Cheffahnder im Fall Messina Denaro, wird nicht müde, allen zu erklären, dass ohne diese intercettazioni alle Mühe umsonst wäre. Es sei nicht wahr, dass die Mafia nicht telefoniere, wie das der Justizminister behauptet hatte. Minister Nordio beteuerte, die Ermittlungen gegen die Mafia und den Terrorismus seien von seiner Reform ausgenommen. Eingrenzen wolle er nur die Abhörung bei Verdacht auf "kleinere Verbrechen" - dazu zählt er offenbar auch Korruption und Amtsmissbrauch.

Wer sind die Helfer und Mitwisser aus der Oberwelt? Auf sie konnte der am Montag gefasste Cosa-Nostra-Pate 30 Jahre zählen. (Foto: Carabinieri/IMAGO/ZUMA Wire)

Nun ist aber gerade diese Grauzone der Gefälligkeiten das beste Klima für die Mafia. Oft schon flogen Clans auf, die sich mit sogenannten Weißkragen aus der bestechlichen und komplizenhaften Oberwelt arrangiert und unterhalten hatten: mit Anwälten, Notaren, Politikern, Beamten, Bankern, Ärzten. Messina Denaro schaffte es auch deshalb, sich der Justiz so lange zu entziehen, weil ihn ein festes Netz solcher Figuren deckte. Und weil er genug Geld hatte, sie alle bei Laune zu halten. Das Vermögen des Bosses wird auf mehrere Milliarden Euro geschätzt. Über Strohleute besaß er Supermarktketten, Tankstellen, Hotels, Bars, Anlagen für Windenergie. Er investierte in Kunst, ins Glücksspiel, in Olivenöl.

So entstand ein "Kontext", wie es die Italiener nennen, in dem viele auf ihre Kosten kamen: mit Stimmenkauf bei Wahlen, mit gelenkten Bauausschreibungen, gezielten Hinweisen aus Justizermittlungen. Oberstaatsanwalt De Lucia sprach von einer "Borghesia mafiosa", einem mafiösen Großbürgertum, das Messina Denaro geschützt habe.

SZ PlusFestnahme von Matteo Messina Denaro
:Wo der meistgesuchte Mafioso Italiens Unterschlupf fand

Er trug eine Luxusuhr, ließ sich aber in einem kleinen Fiat herumfahren. Nach der Verhaftung des Mafiabosses Matteo Messina Denaro beschäftigt die Italiener vor allem die Frage, wie er 30 Jahre lang untertauchen konnte.

Von Andrea Bachstein

Die Chance des "Fettsacks": Rückt jetzt Giovanni Motisi nach?

Und nun? Es wird viel spekuliert über mögliche Nachfolger von Messina Denaro alias "U Siccu", dem Dünnen, an der Spitze von Cosa Nostra. Genannt wird vor allem Giovanni Motisi, "U Pacchiuni", sizilianisch für Fettsack. Motisi war ein treuer Killer der Corleonesi gewesen, der Bosse Salvatore Riina und Bernardo Provenzano also. Die hatten die Mafia jahrzehntelang mit ihrer brutalen Terrormethode beherrscht, mit Morden und Bomben auch auf dem Festland, und den Bogen überspannt. Davon profitierte vor allem die kalabrische 'Ndrangheta, ein bisschen auch die neapolitanische Camorra. Motisi ist schon lange untergetaucht, er ist jetzt 64. Ob der "Fettsack" das Zeug zum Chef hat?

Überhaupt fragen sich die Italiener, ob es die zentralistisch und als Pyramide organisierte sizilianische Mafia mit einem "Boss der Bosse" an der Spitze noch gibt. La cupola, die Kuppel, unter der alle Clans vereint sein sollen? Sie ist offenbar zerbrochen, und alle Versuche, eine neue zu bauen, sind gescheitert. Cosa Nostra ist stiller geworden unter Messina Denaro. Geschäftiger auch. Sie ist gut getarnt, in der "Borghesia mafiosa". Aber nicht ungefährlicher.

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