Süddeutsche Zeitung

Massensuizid in Demmin 1945:Als sich eine Stadt selbst auslöschen wollte

Rasierklingen, Revolver, Zyankali, der Strick: Im Angesicht der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg nehmen sich 1945 Hunderte Bürger der Stadt Demmin das Leben. Wie konnte es so weit kommen?

Rezension von Ulrike Nimz

Als der Frühling 1945 nach Vorpommern kommt, ist der Krieg verloren. Die Wehrmacht hat sich gen Westen zurückgezogen und die Brücken hinter sich gesprengt. Für die Stadt Demmin, Dreistromland am Zusammenfluss von Peene, Tollense und Trebel, ist das fatal. Hier kommt die Rote Armee zum Stehen, es gibt kein Weiterkommen über das Wasser. Bald erschüttert das Dröhnen russischer Panzer die Häuser.

Es sind die Stunden, in denen viele Demminer beschließen, wenn nicht die Stadt, dann diese Welt zu verlassen. 180 Kilometer vom Führerbunker entfernt beginnt ein Massenselbstmord, der trotz seines epidemischen Ausmaßes im gesamtdeutschen Gedächtnis kaum präsent ist.

Auch deshalb hat der Historiker und Dokumentarfilmer Florian Huber ein Buch über jene Ereignisse geschrieben. "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" heißt es und verspricht nicht weniger als eine "unerzählte Geschichte". Huber beginnt mit den Tagen zwischen dem 30. April und dem 3. Mai 1945, als die Demminer in Scharen beschließen, ins Wasser zu gehen; zuerst ihren Kindern, zuletzt sich selbst das Hanfseil um den Hals zu legen; Kapseln zu zerbeißen; sich in den Kopf zu schießen.

1933 gewann die NSDAP in Demmin mehr Stimmen als sonst im Land

Man findet sie zusammengesunken an ihren Schreibtischen, steif in ihren Betten, in den Ästen der Bäume am Rande der Stadt, wo der Wind sie zu wiegen scheint. Schätzungen gehen von 700 bis 2000 Toten aus, bei einer Einwohnerzahl von 15 000. Wie konnte es so weit kommen?

Die Rotarmisten, deren Rachgier und die Angst davor haben der Bevölkerung den Lebensmut ausgetrieben, lautet eine Lesart, die heute weit verbreitet ist - auch unter Neonazis. Seit Jahren, immer um den 8. Mai, marschieren die durch Demmin, um am Tag der Befreiung Trauerkränze in die Peene zu lassen. Auch Florian Huber spart die Vergewaltigungen, das Brandschatzen nicht aus.

Aber er gräbt tiefer und bannt so die Gefahr ideologischer Vereinnahmung. Auf der Suche nach der Frage, warum die kleinen Leute Hand an sich legten, ist kein Platz für Opfermythen. Wenn so vielen gleichzeitig der Sinn des Lebens abhandenkommt, muss man fragen, worin dieser zuvor bestanden hat.

Denn Demmin, das ist nicht nur der Ort, an dem die Selbstmordwelle nach Ende des Zweiten Weltkriegs am höchsten schlug. Was in den Großstädten des Großdeutschen Reiches passiert war, war auch hier geschehen: Fackelumzüge, Judenverfolgung, Kommunistenjagd. Bei der Reichtagswahl im März 1933 waren die Stimmanteile für die NSDAP in Demmin höher als im Rest des Landes.

Huber schildert den Zorn auf den Versailler Frieden, das Erregungspotenzial der Alten, die Erweckungserlebnisse der Jungen. Da ist der Student Gerhard Starcke, der 1930 während eines Auftritts von Hitler im Sportpalast eine neue Form der Entgrenzung erlebt, "zum winzigen Teil einer Masse verschmolz, zum Atom eines summenden Körpers aus vielen tausend Köpfen, Armen und Beinen".

Am 1. September 1939 wird Starcke als Kriegsberichterstatter mit der Wehrmacht die Grenze nach Polen überschreiten. "Letzte große Prüfung des Schicksals", notiert er und dokumentiert eine Gemütslage zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe. Für viele Deutsche gab es mit dem Beginn des großen Krieges nur noch Führer und Fügung, Triumph oder Tod.

Das alles ist nicht neu, aber selten so eindrücklich beschrieben worden. Wo das historische Sachbuch durch Liebe zur Jahreszahl und nüchterne Faktenlast überzeugt, wählt Huber die historische Reportage. Im Ton eines Moritaten-Erzählers begleitet er die kleinen Leute durch den Malstrom der Ereignisse ohne zu sehr zu psychologisieren. Die privaten Aufzeichnungen, die der Autor größtenteils im Deutschen Tagebucharchiv eingesehen hat, sind zunächst noch voll von Liebeserklärungen an den Führer. Später werden Rasierklingen, Revolver, Zyankali gegeneinander abgewogen wie die Zutaten einer Festtagssuppe.

Kurz vor Kriegsende empfahl Goebbels im Fall einer Niederlage den Selbstmord

Der Frage, wie es so weit kommen konnte, stellt Huber eine Dramaturgie gegenüber, die zwar beharrlich um das Thema Schuld kreist, sich aber einfachen Antworten verweigert. Spätestens mit dem Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion 1941 sickern Angst und Zweifel in den kollektiven deutschen Rausch.

Es ist keine plötzliche Erkenntnis, kein Fingerschnippen nach Hypnose, sondern ein langsames Verwittern von Glauben. Da ist der Schwager, der aus dem Osteinsatz im besetzten Polen zurückkehrt und im Zimmer Schneisen zieht, die Hände auf den Ohren, brüllend, weil er die Schreie übertönen musste, die er nicht aus dem Kopf bekommt. "Kein Deutscher war auf Erzählungen von Dritten angewiesen, wenn es um den Abtransport der Juden ging", konstatiert der Autor.

Kurz vor Kriegsende trifft Gerhard Starcke in der Ulanenkaserne auf Joseph Goebbels. Der eröffnet ihm, im Falle einer Niederlage solle er nicht zögern, die Familie und sich selbst zu töten. Starcke, der nun in die ideologische Leere blickt, die er als Kriegsberichter so lange und willfährig gefüllt hat, flüchtet in amerikanische Gefangenschaft.

Die meisten von Hubers Protagonisten sind Davongekommene. Ihre Tagebucheinträge enden lange nach 1945. Sie sind kleine Leute, die meisten weder Helden noch Verbrecher. Wo aber die Realität sich dieser dankbaren Dichotomie verweigert, bleibt oft nur Schweigen. "Wie ein Vorhang" legte es sich nach Kriegsende über die Wirklichkeit, schreibt Huber.

Später, in der DDR, besteht kein Interesse, den Großen Bruder Russland vor den Kopf zu stoßen, indem man an ein Kapitel von Barbarei und Vergeltung rührt. In Demmin erinnert heute ein Findling auf dem Friedhof an die Zeit, in der den Deutschen der Lebenssinn abhandengekommen war. Für alle Ortsfremden gibt es dieses Buch.

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SZ vom 31.03.2015/fued
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