Massenproteste in Brasilien:Rebellen aus der Mittelschicht

Massenproteste in Brasilien: Ein Student hält ein Schild mit der Aufschrift: "Nicht schießen, zuhören".

Ein Student hält ein Schild mit der Aufschrift: "Nicht schießen, zuhören".

(Foto: AFP)

Wie aus dem Nichts ist in Brasiliens Großstädten eine Welle der Empörung entstanden. Die sündhaft teuren WM-Arenen waren nur der Auslöser. Schnell fand sich ein Potpourri von Themen, das den Söhnen und Töchtern Brasiliens missfällt: Es geht gegen Korruption und Straflosigkeit. Gegen Bürgermeister, Gouverneure - und gegen die Präsidentin.

Von Peter Burghardt, Rio de Janeiro

Die Abenddämmerung legt sich über Rio de Janeiro, als der Aufstand in Schwung gerät. Es wird Winter in Brasilien, aber die Tage sind warm, die meisten Demonstranten tragen Sommerklamotten. Und politisch, so dürften sie es sehen, herrscht Frühlingsstimmung im Land.

Sie kommen mit Bussen, Taxis, der U-Bahn, zu Fuß. Erst Hunderte, bald Tausende. Sie haben sich auf Facebook und Twitter verabredet, auch im Fernsehen und auf den Websites der Zeitungen machen Meldungen von diesen neuen Kundgebungen die Runde. Startpunkt in Rio ist der Platz vor der Kirche Candelaria, von dort geht es zwischen Hochhäusern durchs Zentrum. Bald sperrt die Polizei die Avenida Branco für den Verkehr, weil sich 100 000 vornehmlich junge Menschen durch diesen alten Teil der Stadt schieben. "Entschuldigt die Störung", steht auf selbstgemalten Schildern, "wir verändern Brasilien."

Brasilien verändern? Jetzt? Ging es nicht seit Jahren aufwärts mit dem größten Land Lateinamerikas? Die halbe Welt rutschte in die Krise, aber dieser früher so verschlafene Riese war aufgewacht. Statt wie einst mit Schulden und Hyperinflation fiel das Riesenreich durch Wachstum und Devisenreserven auf. Millionen Bedürftige stiegen dank Sozialprogrammen zu Kunden auf und nährten den Konsumrausch. Man fand Öl im Meeresboden und landete neben China, Russland und Indien in der Gruppe der Bric-Staaten, der aufstrebenden Wirtschaftsmächte. Brasilien bekam die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, Rio darf 2016 die Olympischen Spiele veranstalten, und derzeit findet in acht schicken Stadien die WM-Generalprobe statt, der Kampf um den Konföderationen-Pokal. Brasiliens Entwicklung galt bis vor fünf Tagen als Erfolgsgeschichte. Aber nun baut sich in brasilianischen Großstädten auf einmal wie aus dem Nichts eine Welle der Empörung auf.

Brasilien wird zunehmend unbezahlbar

Angefangen hatte es am 13. Juni in São Paulo, weil die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr um 20 Centavos erhöht worden waren. Von 3 Reais auf 3,20 Reais, 1,12 Euro. Das klingt nach wenig und ist für viele Pendler trotzdem eine ganze Menge, Brasilien wird zunehmend unbezahlbar. Immer mehr Autos verstopfen die Straßen, ausgespuckt von riesigen Fabriken und gefüttert mit Benzin und Ethanol. Aber in Transportmittel für jedermann wurde nicht besonders viel investiert.

Natürlich war dies nur der Auslöser, am Montag wurde in diversen Metropolen zwischen Fortaleza und Porto Alegre protestiert. Eine solche Rebellion hat diese Nation seit den Zeiten der Diktatur zwischen 1964 und 1985 und dem Absetzungsverfahren 1992 gegen den kleptomanischen Staatschef Fernando Collor de Mello nicht mehr erlebt. "Die 20 Centavos sind nur der Tropfen, der alles zum Überlaufen bringt", sagt ein Widerständler. "Das hat sich über Jahre aufgestaut."

Er nennt sich Leandro Ramos, ist Mitte zwanzig und Fotograf. Ramos hebt ein Transparent in die Höhe, auf dem steht, dass der Staat lieber Milliarden für Gesundheitssystem und Erziehung ausgeben solle statt für Fußballstadien. Allein die WM wird mindestens elf Milliarden Euro kosten, die zwölf Arenen wurden doppelt so teuer wie geplant, ausgestattet mit allerlei Ehrenlogen. "Die WM ist für Reiche", klagt Ramos. "Ich mag Fußball, aber die Gesellschaft ist mir wichtiger." Staatliche Kliniken und Schulen dagegen würden ihrem Schicksal überlassen. Ein anderer spottet, man sei mit kranken Kindern auf einer Stadiontribüne inzwischen besser aufgehoben als in einem Krankenhaus. "Wir brauchen mehr Gerechtigkeit und mehr Justiz", sagt Ramos. "Die Demokratie verlangt mehr von uns Bürgern. Die Türkei ist für uns ein Beispiel."

Die Revolte in Istanbul war ein Anlass, so wie die 20 Centavos und die sündteuren WM- Arenen ein Anlass waren. Nach Ägyptern, New Yorkern, Spaniern, Griechen oder Chilenen gehen also plötzlich auch Brasilianer in Massen auf die Straße, dabei feiern sie gewöhnlich lieber. Die Mehrheit dieser Rebellen stammt keineswegs aus den Favelas, sondern aus der Mittelschicht. Über Nacht fand sich ein Potpourri von Themen, das den Söhnen und Töchtern Brasiliens missfällt. "Brasilien ist schön, aber wir sind nicht das Wunderland, für das man uns hält", sagt eine Biologin mit brasilianischer Flagge. "Wir haben historische Probleme der Ungleichheit nie gelöst."

"Die Fahrkarte ist teurer als Marihuana"

Manche Mitstreiter tragen Anonymus-Masken, auf Schildern sind Parolen zu lesen wie: "Die Liebe bittet um Durchlass". Oder: "Brasilien, welche Schande, die Fahrkarte ist teurer als Marihuana" - auf Portugiesisch reimt sich das. Oder nur: "Demokratie". Andere fordern mehr Rechte für die Ureinwohner und weniger Einfluss für den Fernsehgiganten TV Globo. Es ist ein diffuser Mix der Unzufriedenheit, mit Fahnen Palästinas und T-Shirts, die Che Guevara zeigen, ein paar linke Aktivisten und Gewerkschaften sind auch dabei. Aber man merkt schnell, dass immer mehr durchschnittliche Leute vor allem die enormen und undurchsichtigen Kosten für Sportfeste und Großprojekte satthaben. Es geht gegen Korruption und Straflosigkeit. Gegen Staatsgewalt und Politik. Gegen Bürgermeister, Gouverneure - und gegen die Präsidentin.

Für Dilma Rousseff ist das ein Schock. Sie übernahm 2011 den Job und die Beliebtheit ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva, noch zuletzt mochten sie drei von vier Wählern. Doch der Wirtschaftsboom ist erlahmt, die Geldentwertung legt wieder zu, Korruptionsfälle sind ungelöst. "Ich habe Lula und Dilma gewählt", sagt ein demonstrierender Beamter, "aber an der Macht verändern sie sich alle." Zehn Jahre nach ihrem ersten Wahlsieg bekommt die linke Arbeiterpartei PT unerwartet Ärger, eineinhalb Jahre vor der nächsten Wahl. Im Stadion von Brasília wurde Dilma Rousseff ausgepfiffen, es verschlug ihr die Sprache. Nachher sagte sie: "Die friedlichen Demonstrationen sind legitim und gehören zur Demokratie." Und weiter: "Diese Stimmen müssen angehört werden."

Bei der brutalen Militärpolizei, einem Erbstück der Generäle, kommt das allerdings nicht so recht an. Die Ordnungshüter mit ihren martialischen Rüstungen knüppeln Demonstranten nieder, schießen mit Gummigeschossen und versprühen Tränengas und Pfefferspray. Auch in Rio kam es in der Nacht wieder zu Zusammenstößen, mit Verletzten und Verhafteten. Einige wenige Chaoten wollten das Gebäude des Regionalparlaments anzünden und verwüsteten Geldautomaten.

Aber es blieb weitgehend ruhig. Noch, muss man sagen. "Denn wenn die Polizei weiter zuschlägt", warnt einer, "dann wird dieser Protest gewaltig wachsen."

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