Die Abenddämmerung legt sich über Rio de Janeiro, als der Aufstand in Schwung gerät. Es wird Winter in Brasilien, aber die Tage sind warm, die meisten Demonstranten tragen Sommerklamotten. Und politisch, so dürften sie es sehen, herrscht Frühlingsstimmung im Land.
Sie kommen mit Bussen, Taxis, der U-Bahn, zu Fuß. Erst Hunderte, bald Tausende. Sie haben sich auf Facebook und Twitter verabredet, auch im Fernsehen und auf den Websites der Zeitungen machen Meldungen von diesen neuen Kundgebungen die Runde. Startpunkt in Rio ist der Platz vor der Kirche Candelaria, von dort geht es zwischen Hochhäusern durchs Zentrum. Bald sperrt die Polizei die Avenida Branco für den Verkehr, weil sich 100 000 vornehmlich junge Menschen durch diesen alten Teil der Stadt schieben. "Entschuldigt die Störung", steht auf selbstgemalten Schildern, "wir verändern Brasilien."
Brasilien verändern? Jetzt? Ging es nicht seit Jahren aufwärts mit dem größten Land Lateinamerikas? Die halbe Welt rutschte in die Krise, aber dieser früher so verschlafene Riese war aufgewacht. Statt wie einst mit Schulden und Hyperinflation fiel das Riesenreich durch Wachstum und Devisenreserven auf. Millionen Bedürftige stiegen dank Sozialprogrammen zu Kunden auf und nährten den Konsumrausch. Man fand Öl im Meeresboden und landete neben China, Russland und Indien in der Gruppe der Bric-Staaten, der aufstrebenden Wirtschaftsmächte. Brasilien bekam die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, Rio darf 2016 die Olympischen Spiele veranstalten, und derzeit findet in acht schicken Stadien die WM-Generalprobe statt, der Kampf um den Konföderationen-Pokal. Brasiliens Entwicklung galt bis vor fünf Tagen als Erfolgsgeschichte. Aber nun baut sich in brasilianischen Großstädten auf einmal wie aus dem Nichts eine Welle der Empörung auf.