Süddeutsche Zeitung

Massenmord am Volk der Karen:Gepeinigt im gelobten Land

Seit Jahrzehnten wird die Minderheit der Karen in Birma vom Militär brutal verfolgt - nun betet sie für den Aufstand der Mönche und hofft auf den Sturz des Regimes.

Oliver Meiler

Aus den Hütten hustet es tief und laut und lang. Es ist ein Kinderhusten, ein gefährlicher. Die Tragödie Birmas hat viele Bühnen. Eine steht hier auf der Müllhalde von Mae Sot, einer thailändischen Kleinstadt an der Grenze zu Birma. Die Sonne brennt auf diese kompakte, unter den Füßen federnde Masse von Unrat und Elend. Fliegen kreisen um einen Fischkopf, der mittendrin liegt und silbern glänzt. Nichts ist hier frischer als dieser Fischkopf.

In den Holzverschlägen auf dem Müllberg sitzen ganze Familien. Sie essen die Reste von den Resten der Reste. Und die Kinder husten laut und tief. In "Garbage Village'', dem Mülldorf von Mae Sot, liegt die Geschichte der Karen brach, eines stolzen und aufständischen Minderheitenvolkes aus Birma.

Etwa 60 Flüchtlingsfamilien leben hier. Ihr Schicksal steht für das kollektive Leid von zwei Millionen Karen, die innerhalb und außerhalb Birmas auf der Flucht sind vor dem Regime der Generäle. Sie wurden vertrieben, gedemütigt und zerrieben zwischen den Welten. Kein Volk hat in den vergangenen vier Jahrzehnten mehr gelitten unter dem birmanischen Militärregime als sie, die Karen.

Mit fünf Millionen bilden sie neben den Shan die größte der vielen Minderheiten Birmas. Keines dieser Völker schaut nun mit größerer Hoffnung nach Rangun, nach Sittwe und nach Mandalay. Die Karen sind Christen, die nun für die buddhistischen Mönche beten, die seit neun Tagen gegen das Militärregime demonstrieren. Sie beten, dass es den Mönchen mit ihrem friedlichen Protest gelingen möge, die Generäle in die Knie zu zwingen.

Sie beten, dass die Schüsse, das Tränengas und die Schlagstöcke der Armee die Hoffnung nicht zerstören. Auch wenn die Soldaten am Mittwoch begonnen haben, in die Menge zu schießen, auch wenn es die ersten Toten und viele Verletzte in Rangun gegeben hat. Auch wenn die Hoffnung nicht allzu groß ist. Die Karen wissen, wie brutal dieses Regime ist. Sie wissen es besser als alle anderen.

Das auserwählte Volk

Auf der Müllhalde in Mae Sot beten sie natürlich auch. Gilt es doch, einen fatalen Epilog in der Geschichte ihres Volkes abzuwenden. Vor 4000 Jahren waren die Karen aus der Mongolei aufgebrochen, um ins "gelobte Land" zu ziehen. So nannten sie es. Und sich selber sahen sie als das auserwählte Volk. Ihre Kultur ist voller biblischer Parabeln dieser Art, voller Hoffnung auf Auferstehung nach dem Untergang, voll von Messianischem.

Ihr "gelobtes Land'' fanden die Karen nach langer Wanderung in Birma, im Osten, dort, wo es gebirgig ist und mit dichtem Regenwald bedeckt. Man sieht sie von hier, die Berge Birmas. Die Grenze liegt nur ein paar hundert Meter entfernt von der Müllhalde. Wenn man genau hinhört, würde man vielleicht die Schüsse hören, das Schnellfeuer, das Rotorengeratter der Hubschrauber der birmanischen Armee.

Das "gelobte Land" ist längst zur Hölle geworden. Zur brutalen Nahkampfzone zwischen den Befreiungskämpfern der Karen und der Junta. Die Karen bezahlen einen hohen Preis für ihren Aufstand. Sie zahlen dafür, dass sie im Zweiten Weltkrieg den Briten geholfen haben, die Japaner aus dem Land zu werfen. Für die birmanischen Unabhängigkeitskämpfer, Alliierte der Japaner, war das Verrat.

Ethnische Säuberung

Er lastet bis heute wie ein Stigma auf den Karen. Das Regime übt Rache mit fast unvorstellbarer Grausamkeit. Wie viele Tote es schon gegeben hat, weiß niemand, aber es gibt Experten, die reden von einem Völkermord oder von einer ethnischen Säuberung, einer gründlichen. Die Militärherrscher bestrafen die Karen auch für ihren Kampf um Autonomie, um Sprache und Kultur, um Traditionen.

Es ist ein archaischer Krieg, der seit Jahrzehnten im Dschungel gefochten wird, fast ohne Öffentlichkeit. Er prägte schon ganze Generationen von Karen. Zum Beispiel Chaung Khu. Man sucht vergeblich nach Zweifeln in den Augen dieser jungen Frau, wenn sie mit sanfter Stimme sagt: "Es geht nur ums Überleben. Wenn man dir so sehr weh tut, so unendlich weh, dann reduziert sich alles auf: ich oder er, ich oder der Feind. Wenn sie mich töten wollen, sagte ich mir, dann will ich wenigstens einen von ihnen mitnehmen. Mit in den Tod." Es klingt nicht böse, wie sie es sagt, nur traurig.

Chaung Khu ist 24 Jahre alt und Karen. Wenn sie über ihre Kindheit erzählt, klingt es, als erzähle eine alte Frau aus einem langen Leben. So viel ist drin, so viel Leid, so viel Krieg, so viel Kraft. Chaung Khu war sieben, als man sie weggab. Die Familie war auf der Flucht im Dschungel, jahrelang. Sie würde bei Familien von Freunden ihres Vaters leben, sagte man ihr. Es sollten sechs verschiedene Familien sein über die Jahre. Und Freunde waren sie nicht.

Auf die Frage, ob es Karen waren, antwortet sie nicht. Sie erzählt nur, wie sie als Hauskraft verdingt wurde, wie man sie um zwei Uhr morgens weckte, damit sie Mohenga zubereite, das traditionelle Frühstück: eine Nudelsuppe mit Fisch, gerösteten Bohnen, etwas Zitronengras. Jede Nacht. Zur Schule durfte Chaung Khu nur, wenn gerade keine Arbeit anfiel. Am Esstisch war nie Platz für sie, nur auf dem Küchenboden. Sie sagte sich immer, irgendwann komme ihre Zeit, dann werde sie ihre Ausbildung nachholen, Englisch lernen und es den Peinigern zeigen.

Mit elf Jahren zog Chaung Khu freiwillig ins Trainingscamp der Befreiungsarmee der Karen, der berüchtigten "Karen National Liberation Army''. Die Dschungelguerilla mit ihren etwa 12.000 Kämpfern gilt als die beste ihrer Art auf der Welt. Viele Legenden nähren ihren Mythos. Ihre Generäle werden wie Helden verehrt. Zwei Jahre war Chaung Khu im Lager. Gekämpft habe sie nicht, sagt sie. Aber viel geübt, auch an schweren Waffen. "Die waren ja so schwer, mindestens drei Kilo", sagt sie und lacht, "schau mich an, wie klein und dünn ich bin. Wenn ich liegend schoss, mussten sie mich auf den Boden drücken, sonst hätte mich die Wucht des Rückstoßes zurückgeschleudert."

Kinder gegen Kinder

In keinem anderen Land der Welt, so hat es Human Rights Watch ermittelt, kämpfen mehr Kindersoldaten als in Birma. Auf beiden Seiten. Kinder gegen Kinder. Die birmanische Armee hat nach Schätzungen der Menschenrechtsgruppe 80.000 Kinder unter Waffen. Die meisten von ihnen wurden auf dem Schulhof zwangsrekrutiert, ohne Wissen ihrer Eltern. Arme Familien lockt das Regime mit ein paar Säcken Reis und dem Ruf "Tapfere Sprosse braucht die Nation''.

Bevor die Truppen in den Dschungel Ostbirmas geschickt werden, pumpt man sie mit Alkohol und Amphetaminen voll. Es wird ihnen befohlen, Frauen und Kinder zu vergewaltigen. Ganze Gegenden werden zu "Free Fire Zones" erklärt. Dort gilt kein Gesetz. Aufständische Dörfer werden niedergebrannt, 3000 in den vergangenen zehn Jahren. Die Soldaten töten das Vieh der Bauern. Und sie verminen die Gemüsefelder, damit die vertriebenen Dorfbewohner nie mehr zurückkehren können.

1500 Menschen werden pro Jahr Opfer von Minen. Für 200 von ihnen macht Maw Kher Prothesen, in einer Werkstatt der "Mae Tao Clinic" in Mae Sot, einem "Krankenhaus im Exil'' für 100000 Patienten im Jahr - fast alles Karen. Er trägt selber eine Prothese, seit jenem Unfall vor 20 Jahren. Maw Kher zeigt eine Landkarte mit den verminten Gebieten. Er hat Fähnchen gesteckt. Doch viel weiß man nicht. Auch die Befreiungsarmee der Karen legt Minen, rudimentäre Sprengsätze. Es ist ein billiges Kampfmittel. Meistens trifft es die Falschen. Im Hass wird die Zukunft schnell vergessen.

Als Serney Moo in der Befreiungsarmee war, nannten sie ihn "Jungle-man''. Er mochte seinen Spitznamen. Jetzt ist er 59. "Es ist ein tiefer Hass in uns drin, der geht nicht weg'', sagt Serney Moo, "ich habe birmanische Freunde, Nicht-Karen, aber ich traue ihnen nicht.''

Flucht nach Thailand

Er hat es erlebt und überlebt, wie die birmanische Armee mit Karen-Männern umgeht, die sie auf ihren Feldzügen durch den Regenwald zu fassen bekommt. Sie werden verschleppt und zur Arbeit in den Steinschlägen gezwungen, zum Bau von Straßen und Palästen für die Mächtigen. Bis ihnen die Kraft ausgeht, bis sie zusammenbrechen und sterben. Junge Frauen werden verkauft, viele als Sexsklavinnen. Der Handel mit Menschen floriert so wie jener mit Drogen. Das Geschäft füllt die Taschen der Junta. Ein Nebenverdienst des Kriegs, einer, der so nur im Krieg möglich ist.

Wer kann, der flieht. Rüber nach Thailand, über eine durchlässige Grenze. 20 Baht, knapp 50 Cent, kostet die Flussüberfahrt nach Mae Sot auf einem aufgeblasenen Gummireifen. Auch am helllichten Tag. Man kann ihnen zusehen, wie sie fliehen, unten an der "Brücke der Freundschaft'', die die beiden Länder verbindet. Darunter liegt das "Niemandsland''. So nennen sie den Umschlagplatz vieler Waren, auch illegaler. Die Brücke ist eingezäunt. Doch der Zaun geht nicht ganz bis zum Boden. Gerade wieder sind drei Mädchen unten durchgekrochen, höchstens 15 Jahre alt. Ganz flink in die Freiheit, aber schutzlos. Freiwild, sagt jemand, der dabeisteht.

In Thailand können sie billige Fabrikarbeiter gut gebrauchen. Sie zahlen sie schlecht, behandeln sie noch schlechter. Die meisten erhalten von ihren Arbeitgebern selbst dann keine Originalpapiere, wenn sie vom Staat eine Arbeitsbewilligung erhalten haben - nur Kopien davon. Fotokopien erkennt die thailändische Polizei aber nicht an und weist alle Birmanen aus, die sie erwischt. Gegen etwas Schmiergeld können sie noch am selben Tag wieder zurück. Es sind dies kleine Akte der alltäglichen Demütigung. Die schönsten Villen in Mae Sot gehören den Polizisten.

Vor einem Jahr erließ die thailändische Regierung ein Gesetz, das es den mehr als zwei Millionen Birmanen im Land untersagt, Mobiltelefone und Motorräder zu besitzen. Öffentlich dürfen nie mehr als fünf von ihnen zusammenstehen. Und abends um acht Uhr beginnt für Birmanen die Ausgangssperre, die bis sechs Uhr morgens dauert. Bis zum Arbeitsbeginn.

Ein Ort der Hilfe

Und doch ist Mae Sot eine Oase der Ruhe und des Friedens, ein kleines Paradies nach der Hölle in Birma. Trotz aller Schikanen und der rassistischen Nachrede. Hier arbeiten Hilfsorganisationen, UN-Leute, Ärzte. Viele Freiwillige, viele Leute mit Herz. Zum Beispiel Benno Röggla und seine Organisation "Helfen ohne Grenzen''. Röggla ist 50 Jahre alt und Südtiroler, ein Bär von einem Mann. Früher war er ein erfolgreicher Unternehmensberater. Er verdiente viel, lebte in Wien. Er coachte nur noch die "Topshots'', wie er sagt, "oberste Führungsetage''.

Bis ihn Birma einholte und das Schicksal der Karen. Vor fünf Jahren war das, auf einer Reise. Nun lebt er das halbe Jahr in Mae Sot. Den Rest verbringt er in Bozen. Dort tritt er auf, redet über Birma, sammelt Geld für viele Projekte. 45 Schulen mit 5500 Kindern finanziert "Helfen ohne Grenzen" mittlerweile, die meisten davon im Dschungel Ostbirmas. Es sind Schulen für Karen. Es wird Karen unterrichtet. Und Englisch. Sie sollen es schaffen können, die Kinder.

"Sky blue" heißt eine dieser Schulen, "Himmelblau". Es ist die Schule am Rand von "Garbage Village", der Müllhalde, wo sie für ein Kilogramm dieser weißen Plastiksäcke, die hier überall herumliegen, ein paar Baht kriegen. Wo sie die Säcke zuerst mit bloßen Händen leeren, den Abfall sezieren und trennen, die Säcke dann zu großen Paketen zusammenbinden. Wenn es geregnet hat, sind die Säcke schwerer und die Pakete schneller voll. Dann kommen mehr Baht zusammen.

Die Schule ist aus, die Kinder rennen nach draußen. Sie lachen beim Rennen. Sie hüpfen über Berge von Plastikflaschen und halbleeren Büchsen. Ein Mädchen sitzt am Boden, blättert in einem bunten Magazin, das aus der kompakten Masse von Unrat und Elend herausstach.

Es ist kein gelobtes Land. Aber es ist kriegsfrei. Wenigstens das.

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Quelle:
SZ vom 27.9.2007
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