Ukraine:Weiteres Massengrab mit Zivilisten in der Region Kiew?

Ukraine: Leichen von Zivilisten aus einem Massengrab in Butscha, die nach ukrainischen Angaben den Angriffen der Russen zum Opfer fielen.

Leichen von Zivilisten aus einem Massengrab in Butscha, die nach ukrainischen Angaben den Angriffen der Russen zum Opfer fielen.

(Foto: VALENTYN OGIRENKO/REUTERS)

Medien berichten über ein mögliches Massaker im Dorf Busowa. Außerdem verdichten sich die Hinweise, wonach die russischen Besatzer mit Todeslisten Jagd auf ukrainische Aktivisten, Amtsträger und frühere Soldaten machen.

Von Florian Hassel, Belgrad

Die letzte Nachricht über ein angebliches Massengrab mit mutmaßlich von russischen Soldaten ermordeten Ukrainern kam vom Bürgermeister der Gemeinde Dmitriwka in der Region Kiew. Im Dorf Busowa seien in einem zugeschütteten Graben neben einer Tankstelle die Leichen von mehreren Dutzend Zivilisten gefunden worden, sagte Taras Didich am späten Samstagabend im ukrainischen Fernsehen. Die genaue Zahl der Toten stehe noch nicht fest.

Die Nachricht, die zunächst nicht von unabhängigen Beobachtern überprüft werden konnte, kam nur zwei Tage nach Entdeckung eines anderen Massengrabes beim Dorf Makariw, ebenfalls in der Region Kiew. "Bis gestern haben wir 132 Zivilisten gefunden, die von den russischen Orks erschossen worden sind - Menschen kann ich sie nicht nennen", sagte Dorfvorsteher Wadim Tokar im Fernsehen.

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Die Nachrichten aus Busowa oder Makariw kommen nur wenige Tage nach dem Massaker von Butscha: Dort waren nach dem Rückzug der russischen Truppen seit dem 1. April Hunderte ermordeter Zivilisten gefunden worden. Butschas Bürgermeister Anatolij Fedoruk gab an, bis zum 6. April habe man bereits 320 Leichen von Zivilisten entdeckt. "Es war kein einziger Soldat unter denjenigen, die von den russischen Truppen erschossen und gefoltert wurden", sagte Fedoruk der Ukrainska Prawda (UP).

"Weitere Leichen in Parks oder Wäldern"

Die tatsächliche Zahl der Opfer könnte noch wesentlich höher liegen: "Es gibt viele improvisierte Grabplätze, in Hinterhöfen oder Sackgassen", zitierte der Kyiv Independent in Butscha die 51 Jahre alte Professorin Wladislawa Lubarez. Der Polizeichef der Region Kiew, Andrij Nebitow, gehe davon aus, dass weitere Leichen in Parks oder Wäldern der Region gefunden würden.

Das Ausmaß des Mordens ist umso erschreckender, wenn Schätzungen über die Zahl der Einwohner zutreffen, die nicht vor den russischen Truppen geflohen waren: Makariws Bürgermeister Tokar zufolge waren von den zuvor 15 000 Einwohnern weniger als 1000 unter russischer Besatzung im Dorf geblieben. Butschas Bürgermeister Fedoruk schätzte, dass von 50 000 Einwohnern nur rund 3500 noch im Städtchen waren und von den Russen terrorisiert wurden.

Der Bürgermeister selbst kam nur durch Glück mit dem Leben davon. Nach dem Einmarsch der Russen am 3. März überredete Fedoruk Frau, Tochter und Schwiegermutter, sich in Sicherheit bringen zu lassen. Er selbst blieb im Dorf, um die Versorgung der verbliebenen Einwohner zu organisieren. Der Bürgermeister wechselte regelmäßig seinen Aufenthaltsort und versteckte sich in den Wohnungen oder Häusern von Bekannten oder in leer stehenden Fabriken - mit gutem Grund.

Die US-Regierung informierte die UN-Menschenrechtskommissarin in Genf kurz vor Kriegsbeginn, russische Einheiten stellten Listen bereits identifizierter ukrainischer Bürger auf, "die im Fall einer militärischen Besetzung ermordet oder in Lager geschickt werden sollen". Das Londoner Institut RUSI beschrieb am 15. Februar, Russlands Geheimdienste hätten unter der Aufsicht von Dimitri Kosak, dem Vizechef der Kreml-Verwaltung, Todeslisten zu ermordender Ukrainer aufgestellt.

Der Bürgermeister überlebte nur mit Glück

Deren Adressen, persönliche Details und Kfz-Kennzeichen habe sich Russland seit Juli 2021 durch Spione oder durch das Hacken von Datenbanken ukrainischer Autoversicherer besorgt, so RUSI. Die Kiewer Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matwitschuk schilderte der SZ, sie sei von russischen Kontakten schon im Herbst 2021 gewarnt worden, dass sie und andere Aktivisten auf einer russischen Todesliste ständen.

Butschas Bürgermeister beschloss nach mehreren Tagen im Untergrund, kurz in sein Haus zurückzukehren - und traf dort auf eine russische Maschinengewehrstellung. Zur Überprüfung seiner Person zog ein russischer Offizier "zwei gedruckte Listen mit Namen aus der Tasche", auf denen mit einem Schreibfehler auch "Fedortschuk, Anatolij Petrowitsch" stand, schilderte Fedoruk der UP.

Dem Offizier habe er gesagt, er sei lediglich ein Angestellter der Stadtwerke - glücklicherweise habe es in seinem Haus weder Fotos mit ihm, Fedoruk, gegeben, noch habe er seinen Pass dabei gehabt. Als der Offizier mit ihm zu der Adresse gehen wollte, wo Fedoruk angeblich seinen Pass aufbewahrte, sei er durch einen Funkspruch zu einer anderen Aufgabe gerufen worden. Der Bürgermeister tauchte unter - und erst nach dem Abzug der Russen wieder auf.

Trifft Fedoruks Bericht über die Namenslisten zu, wäre dies die erste direkte Bestätigung, dass die russischen Einheiten anhand vorbereiteter Listen nach ukrainischen Offiziellen forschen. Der UP berichteten Einwohner von Butscha zudem, die Russen seien besonders auch zu Adressen aktiver oder ehemaliger Soldaten gegangen. Der Bundesnachrichtendienst soll zudem einen Funkspruch abgehört haben, in dem Russen schildern, dass ukrainische Soldaten erst verhört, dann erschossen werden, so der Spiegel.

Gezielte Bombenabwürfe auf Zivilisten

Neben gezielten Morden von Amtsträgern tötet Moskau auch immer wieder Zivilisten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International legte am 7. April einen Bericht vor, in dem sie Morde an Zivilisten durch russische Einheiten an vier Orten allein in der Region Kiew dokumentierte. Zudem geht Moskau auch mit gezielten Bombardements gegen Zivilisten vor - am tödlichsten war ein Bombenabwurf auf das Theater der Hafenstadt Mariupol am 16. März: 300 Menschen starben.

Und nach dem Raketentreffer auf den Bahnhof von Kramatorsk am Freitag starben bisher 52 Menschen. Das vor allem russische Quellen auswertende Conflict Intelligence Team fand mehrere Indizien dafür, dass Moskau die Rettung von Zivilisten aus der Ostukraine erschweren will und russische Einheiten die Rakete am Freitag gezielt auf den Bahnhof von Kramatorsk abfeuerten.

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