Massenflucht der Kurden:Schrecken des IS rückt an die Türkei heran

Lesezeit: 4 min

Flüchtlinge aus Syrien: Eine Familie hat es an die türkisch-syrische Grenze geschafft (Foto: dpa)

Angst spiegelt sich in ihren Gesichtern: 130 000 syrische Kurden sind in die Türkei geflüchtet - und verbreiten die Kunde von der Gnadenlosigkeit des IS.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Der Horror ist jetzt ganz nah, und die Angst ist es auch. Sie spiegelt sich in den Gesichtern der Geretteten, in den Bildern, die das türkische Fernsehen ganztags von den flüchtenden syrischen Kurden zeigt. Von Kindern, die eine Greisin im Rollstuhl am geöffneten Stacheldraht vorbeischieben, von Männern, die ihre Frauen auf den Rücken gebunden haben, von Bäuerinnen mit Babys im Arm und Entsetzen in den Augen.

So dicht sind die Dschihadisten des "Islamischen Staats" (IS) nun an die Türkei herangerückt, dass die Kurden aus der syrischen Grenzstadt Ain al-Arab den Schrecken mit ins Nachbarland tragen. Auch das gehört wohl zur Strategie des IS-Terrors. Die Kunde von ihrer Gnadenlosigkeit soll sich in die benachbarte Türkei verbreiten.

"Sie haben Frauen entführt, sie bis zum Hals eingegraben und gesteinigt", hat der 19-jährige Dalil Boras einem Reporter der Agentur AP erzählt, ein paar Kilometer von der Grenze entfernt, auf türkischer Seite. Inzwischen ist Boras zurück in Syrien. Der Kurde ist ein Kämpfer. Sein 17-jähriger Bruder wurde offenbar bereits vom IS getötet. Nicht nur Flüchtlinge strömen über die Grenze, seit die Türkei diese in der Südost-Provinz Şanlıurfa an acht Stellen am Freitag vorübergehend, wie es heißt, geöffnet hat. Auch Kämpfer suchen auf der türkischen Seite zumindest kurzzeitig Schutz - und Unterstützung.

Suruç hat 60 000 Einwohner - und beherbergt inzwischen 100 000 Flüchtlinge

Die in der Türkei wie in Europa nach wie vor verbotene militante türkische Kurden- Organisation PKK hat Kurden praktisch in aller Welt dazu aufgerufen, nach Syrien zu kommen und gegen den IS zu kämpfen. "Es gibt im Widerstand keine Grenze mehr", verkündet die PKK. Auch die kurdische Jugend und die Frauen müssten "mobilisiert werden", sagte der PKK-Funktionär Dursun Kalkan in einem TV-Sender. Die in Syrien kämpfende kurdische PYD ist mit der PKK assoziiert. Die schlägt scharfe Töne an, sie wirft der türkischen Regierung "Kollaboration" mit dem IS vor, weil sich die Türkei im Kampf gegen die Dschihadisten zurückhalte.

1 / 8
(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Panische Flucht: Syrische Kurden tragen ihre verbliebenen Habseligkeiten über die Grenze zur Türkei in der Südost-Provinz Şanlıurfa .

2 / 8
(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Andere warten mit ihren Herden darauf, die Grenze überqueren zu dürfen. Allein seit Freitag sind wohl 130 000 Syrer vor dem IS geflohen.

3 / 8
(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Grenzbewachung in der Nähe der türkischen Stadt Suruç, die 60 000 Einwohner hat. Nun beherbergt sie auch 100 000 Flüchtlinge.

4 / 8
(Foto: Ulas Yunus Tosun/dpa)

Die Dschihadisten sind ihnen auf den Fersen: Der IS ist schon sehr nah an die Türkei herangerückt, um die Grenzstadt Ain al-Arab wird heftig gekämpft.

5 / 8
(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Ein Soldat schießt in die Luft: Die Türkei schließt kurz ihre Grenzen, es kommt zu Tumulten. Wie es dazu gekommen ist, bleibt unklar.

6 / 8
(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Sicher ist nur: Die nackte Angst treibt die Menschen fort aus ihrer Heimat. Kurden werfen an der Grenze Steine auf türkische Soldaten.

7 / 8
(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Was bringt die Zukunft? Nur wenige Syrer haben Aufnahme in den türkischen Lagern gefunden. Die Mehrheit schlägt sich durch. Irgendwie.

8 / 8
(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Vor allem kurdische Frauen und Kinder bitten um Einlass. Und auf türkischer Seite ist bisweilen Geschützfeuer aus Ain al-Arab zu hören.

Letzteres hatte Recep Tayyip Erdoğan, der bisherige Premier und neue Präsident, stets mit den 46 türkischen Geiseln in der Hand des IS begründet. Die Geiseln sind nun frei, und Erdoğan hat erstmals angedeutet, dass sich die Haltung der Türkei ändern könnte. "Es ist Zeit, dass wir unseren Standpunkt festlegen", sagte er am Sonntag vor dem Abflug in die USA, wo er an der UN-Vollversammlung teilnehmen will. Washington übt großen Druck auf Ankara aus, sich der Koalition gegen den IS anzuschließen. "Wir erwarten, dass sich die Türkei auf die eine oder andere Weise beteiligt", wurde Pentagon-Sprecher John Kirby in türkischen Zeitungen zitiert.

Die grenznahe türkische Stadt Suruç hat knapp 60 000 Einwohner - und beherbergt nun rund 100 000 Flüchtlinge. Die haben sich Schlafplätze in Parks, Hochzeitssalons und Moscheen gesucht. Die Behörden sind dabei, in Suruç nun Zeltlager zu errichten. In dem Grenzdorf Mert Ismail stünden, so berichtet die Zeitung Milliyet, am Grenzzaun bereits mehrere Tausend Autos, die Flüchtlinge benutzten, aber nicht in die Türkei bringen durften. Im TV-Sender NTV hieß es, die IS-Kämpfer seien bis auf fünf Kilometer an Ain al-Arab (kurdisch Kobane) herangerückt, bisweilen könne man auf türkischer Seite Geschützfeuer hören. Ein paar Mörsergranaten seien auch schon auf das türkische Dorf Mert Ismail gefallen, weshalb die Bevölkerung beginne, den Ort zu verlassen. Auch eine Radiostation aus Ain al-Arab kann man jenseits der Grenze empfangen. Sie spielt vor allem patriotische kurdische Lieder.

"Es ist für uns eine humanitäre Aufgabe, unsere syrischen Brüder aufzunehmen", hat Premier Ahmet Davutoğlu gesagt. Dabei mache man keinen Unterschied, was Ethnie oder Religion angehe. "Damit schreiben wir eine goldene Seite in unsere Geschichte", so Davutoğlu. Am Montag setzte Vizeregierungschef Numan Kurtulmuş die Zahl der bereits in die Türkei geflüchteten syrischen Kurden auf 130 000 hoch. In der Türkei lebten zuvor bereits etwa 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge. Die genaue Zahl kennt niemand.

Nur der kleinere Teil der Syrer hat Aufnahme in türkischen Lagern gefunden. Die Mehrheit schlägt sich irgendwie durch. In Istanbul sieht man immer wieder bettelnde Frauen mit kleinen Kindern im Arm. Sie hoffen auf Almosen. Zehntausende arbeiten, meist schwarz, oft zu Niedriglöhnen. In Istanbul gibt es aber auch syrische Geschäftsleute, denen es besser geht, sowie zahlreiche syrische Journalisten, die für oppositionelle Medien arbeiten. Eine syrische Journalistin berichtete der Süddeutschen Zeitung erst jüngst von IS-Drohungen auch in der Türkei gegen Oppositionelle aus dem Nachbarland.

"Sie können einhundert Mal auf den Koran schwören und einhundert Mal lügen"

Wer wollte, konnte auch in den Gesichtern der 46 türkischen Geiseln, die nach 101 Tagen IS-Gefangenschaft am Wochenende freikamen, die Angst lesen. Die türkische Regierung hat den Freigelassenen geraten, nicht mit den Medien zu sprechen. Nach der Geiselnahme im türkischen Konsulat im irakischen Mossul am 11. Juni hatte sie sogar eine Nachrichtensperre verhängt.

Einige der Befreiten wollten nun aber nicht schweigen. "Sie haben uns nicht körperlich misshandelt, aber es gab ständige Drohungen", sagte Generalkonsul Öztürk Yilmaz. Mehrmals hätten sie ihm eine Waffe an den Kopf gehalten, er habe sich aber trotzdem geweigert, Propagandavideos von den Geiseln drehen zu lassen, sagte Yilmaz. Dies wurde auch von anderen Entführten bestätigt. Über seine IS-Bewacher sagte Yilmaz: "Sie können einhundert Mal auf den Koran schwören und einhundert Mal lügen."

Ihr Forum
:Wie kann Deutschland den Menschen, die vom IS bedroht werden, helfen?

Der Flüchtlingsstrom aus dem Norden Syriens in die Türkei reißt nicht ab. Mehr als 130 000 Menschen sind aus Angst vor IS-Massakern über die Grenze gekommen. Schon jetzt liefert die Bunderegierung Waffen in die Region. Ist das genug, oder sollte sich Deutschland nicht besser humanitär engagieren?

Diskutieren Sie mit uns.

In der Türkei wurde auch am Montag gerätselt, ob der IS im Austausch für die Geiseln etwas bekommen soll. IS-Häftlinge aus türkischen Gefängnissen etwa? "Das Wichtigste ist, dass unsere Geiseln frei sind", sagte Erdoğan. Der türkische Geheimdienst habe die Befreiung durch "Kontakte" mit IS-Leuten ermöglicht, so ließ sich Premier Davutoğlu ein. In einigen Medien hieß es, arabische Stämme hätten bei der Befreiung mitgeholfen. Die IS-nahe Webseite Takva sprach gar von "Verhandlungen" mit "türkischen Diplomaten" und brüstete sich mit den Worten, dies bedeute eine "De-facto-Anerkennung des Islamischen Staats".

© SZ vom 23.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: