Süddeutsche Zeitung

Katholische Kirche:"Hätte ich noch mehr und engagierter handeln können? Sicher, ja"

Nach der Vorstellung des Gutachtens, das Erzbischof Kardinal Marx und seine Vorgänger im Amt schwer belastet, gibt es im Erzbistum erste personelle Konsequenzen. Marx selbst räumt Fehlverhalten ein, will aber vorerst im Amt bleiben.

Bei einer Pressekonferenz hat sich Erzbischof Kardinal Marx zum ersten Mal ausführlich zum Münchner Missbrauchsgutachten geäußert und eine umfassende Aufklärung angekündigt. "Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer notwendigen Reform der Kirche in Haltung und Strukturen entgegentritt, hat die Herausforderung nicht verstanden", sagte Marx.

Marx kündigte auch erste personelle Konsequenzen an. Prälat Lorenz Wolf, der im Gutachten schwer belastet wird, habe angekündigt, auf alle seine Ämter zu verzichten. Jeder Verantwortungsträger sollte nun überlegen, was er persönlich zu verantworten habe, wo er sich schuldig gemacht habe und welche Konsequenzen er ziehen müsse. Das gelte auch für jene, die nicht namentlich im Gutachten genannt werden.

Marx selbst will vorerst im Amt bleiben. Bereits nach Veröffentlichung der Studie hatte es Spekulationen gegeben, dass er Papst Franziskus erneut seinen Amtsverzicht anbieten könnte. "Ich klebe nicht an meinem Amt", erklärte Marx dazu. Das Angebot des Amtsverzichts im vergangenen Jahr sei "sehr ernst gemeint" gewesen. Papst Franziskus habe aber anders entschieden und ihn gebeten, seinen Dienst weiter zu tun. Er sei bereit dazu, das auch weiterhin zu tun "wenn das hilfreich ist". Sei das nicht der Fall, will Marx die Entscheidung, wie er ankündigte, gemeinsam mit anderen im Erzbistum noch einmal überdenken. "In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir alleine ausmachen."

Das vergangene Woche veröffentlichte Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zu Fällen sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen im Erzbistum München und Freising von 1945 bis 2019 sei "ein tiefer Einschnitt für die Kirche hier im Erzbistum und darüber hinaus", sagt Marx. Die von seinem Bistum in Auftrag gegebene Studie wirft ihm und seinen Vorgängern im Amt des Erzbischofs, Kardinal Friedrich Wetter und Kardinal Joseph Ratzinger, Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsfällen vor und geht von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus - und von einem weit größeren Dunkelfeld.

Marx sei bereit dazu, die Verantwortung, die ihm in der Studie zugeschrieben werde, zu übernehmen. "Die größte Schuld besteht für mich darin, die Betroffenen übersehen zu haben." Es habe kein wirkliches Interesse an ihrem Schicksal, an ihrem Leiden gegeben. Das habe systemische Gründe, gleichwohl trage er dafür moralische Verantwortung. "Hätte ich noch mehr und engagierter handeln können? Sicher, ja."

"Wir leugnen es nicht"

Marx sei nach der Lektüre der Studie erneut erschüttert über das Leid der Opfer, das Verhalten der Täter und der Verantwortlichen. Bei den Opfern - aber auch bei den Gläubigen, die nun im Glauben erschüttert seien und an der Kirche zweifelten - bittet der Erzbischof um Entschuldigung. "Die Kirche war offensichtlich für viele Menschen ein Ort des Unheils nicht des Heils, ein Ort der Angst und nicht des Trostes." Dem Inhalt des Gutachtens halte man stand, betonte Marx, "wir leugnen es nicht".

Trotz einer Einladung zur Veröffentlichung des Gutachtens am vergangenen Donnerstag nahm Marx die 1900 Seiten starke Untersuchung nicht selbst entgegen. Dies hatten seine Amtschefin Stephanie Herrmann und Generalvikar Christoph Klingan übernommen. Dafür wurde Marx kritisiert. Während der Pressekonferenz betonte er: "Wir nehmen das Gutachten ernst." Dass er nicht anwesend gewesen sei habe, so Marx nun, "nichts mit mangelndem Respekt vor den Betroffenen zu tun", sondern er habe dem Gutachten und den Betroffenen Raum geben wollen und hoffe, damit keine Gefühle verletzt zu haben.

Es gelte nun, "Reformschritte voranzutreiben" und er wolle sich dafür weiter engagieren, so Marx. Die Aufarbeitung müsse weiter betrieben werden. "Wir schauen als Erzbistum nach vorne, aber ohne den Blick nach hinten wird es nicht gehen", sagte Marx.

"Unser erstes Augenmerk muss den Betroffenen von sexuellem Missbrauch hier im Erzbistum gelten", ergänzte Generalvikar Christoph Klingan. Das sei in der Vergangenheit "zu kurz geraten". Er appellierte an Opfer, die sich noch nicht gemeldet haben, sich an eine neu eingerichtete Stabsstelle zu wenden. Außerdem seien künftig eine Seelsorgerin und ein Seelsorger zuständig. Eine im Gutachten vorgeschlagene unabhängige Stelle sei bislang noch nicht eingerichtet worden. Viele Betroffene seien "tief in ihrem Glauben erschüttert worden", sagte Klingan und betonte: "Die Perspektive der Betroffenen gehört in den Mittelpunkt."

Auf die 82-seitige Stellungnahme des emeritierten Papstes Benedikt XVI. angesprochen, zeigte sich Marx zurückhaltend: "Ich akzeptiere, dass er hier die Fakten anders interpretiert", erklärt Marx. Er betont aber auch: "Es wäre gut, wenn er sich dazu noch einmal persönlich äußert, das würde ich begrüßen." Den Vorwurf, er setze bei diesem Thema durch ausweichende Antworten die Vertuschung der katholischen Kirche fort, will Marx nicht auf sich sitzen lassen. Er habe schlichtweg nicht ausreichend Zeit gehabt, die Studie und die Stellungnahme des emeritierten Papstes zu prüfen. Er habe außerdem keine Information, die ihn dazu veranlasse, zu sagen, der Papst habe etwas vertuscht. Dass von erwartet werde, darüber ein Urteil zu fällen, bezeichnet Marx als "schwierig".

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