Besuch beim Bruder von Martin Schulz:"Er war der Kleine, der erst mal kapieren musste"

Buchvorstellung 'Verstehen Sie Schulz'

Doris Harst und Walter Schulz, die Geschwister von Martin Schulz, mit dem neuen Schulz-Buch.

(Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Was Walter Schulz, Lokalpolitiker in Köln-Nippes und großer Bruder von Martin, mit dem Kanzlerkandidaten der SPD verbindet. Ein Treffen.

Von Lars Langenau, Köln

Walter Schulz ist etwas kleiner und grauer als Martin Schulz, sieht aber sonst genauso aus: Die verbliebenen Haare zur praktischen Halbglatze geformt und ein Vollbart, der morgens unkompliziert zu stutzen ist. Eine randlose, schmale Brille, die die wasserblauen Augen betont. Doch bei aller Ähnlichkeit ist Walter Schulz ein ganz anderer Mensch als Martin Schulz.

Martin, 61, der Pragmatiker. Walter, 70, der Linksradikale. Martin, der Europaparlamentspräsident und Kanzlerkandidat. Walter, der kleine Kommunalpolitiker aus Köln-Nippes. Martin, seit Ewigkeiten in der SPD - und jetzt ihr Chef. Walter, erst 2009 eingetreten, was bei seinem Bruder zunächst Ungläubigkeit und dann ein lautes, befreiendes Lachen auslöste.

Endlich sei der "alte Quertreiber handzahm geworden". Walter gniggert in sich hinein, wenn er davon erzählt und dabei einen schiefen Schneidezahn zeigt, was ihn zugleich uneitel als auch schelmisch aussehen lässt. Er, dem die SPD so lange nicht antikapitalistisch genug war. Er, der der SPD zu links war und der dem Radikalenerlass von Willy Brandt anno 1974 zu verdanken hatte, dass er einen Job verlor und bei einem anderen chancenlos war. Und nun sind Schulz und Schulz bereits seit acht Jahren Genossen.

Martin Schulz hat viele Details seiner Biografie öffentlich gemacht. Würselen, immer wieder Würselen. Man weiß, dass er Alkoholiker war und das überwunden hat. Man glaubt, ihn gut zu kennen. Aber tun man das wirklich? Deshalb also der Versuch einer Annäherung über den Bruder.

Als Kind, so glaubt Walter, habe Martin ihn bewundert, "weil ich weit weg war und deshalb geheimnisvoll". Kurz nach Martins Geburt war er auf ein Internat gewechselt. "Wir sind Brüder und heute ganz enge Freunde, aber diese Freundschaft haben wir erst richtig als Erwachsene entwickelt."

Seine Helden hießen Che Guevara, Martin Luther King und Amílcar Cabral

Wie sein Bruder ist Walter Fußballfan und kickt selbst auch noch heute gerne. Sein Spitzname auf dem Platz ist "Pastörchen, der kleine Pastor". Seine Leidenschaft für den 1. FC Köln führte dazu, dass er mit 19 Jahren aus einem Priesterseminar in Bonn geworfen wurde. Um ein seltenes Spiel seines Vereins im Europapokal zu sehen, schlich er sich davon. Er wurde entdeckt und musste sich sagen lassen, dass Fußball und Kirche nicht zusammenpassen. Walter aber fand, dass dann Walter und die Kirche nicht zusammen passen. Er zog die Reißleine, nahm Quartier im Haus des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und begann im damaligen Regierungssitz der Bundesrepublik Politikwissenschaften zu studieren. Sein kleiner Bruder Martin war da noch ein guter Schüler am Heilig-Geist-Gymnasium im Würseler Stadtteil Broich.

Mit Ferienjobs als Dachdecker und in der Chemieindustrie finanzierte sich Walter sein Studium, er war SDS-Mitglied und seine Helden hießen Che Guevara, Martin Luther King und der afrikanische Intellektuelle Amílcar Cabral. Kurzum: Walter lebte das Leben des klassischen 68ers. Und Martin begann in der Schule langsam abzurutschen.

Als Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde, hing das für Walter mit der unverarbeiteten deutschen Geschichte zusammen: "Wir wussten, wer in der Nazizeit und jetzt wieder im Staat Verantwortung trug, aber das interessierte doch keinen. Die Adenauer-Ära war für uns damals die - ich verkürze - verlängerte, patriarchalisch geprägte Naziüberlebenszeit." Sein fast neun Jahre jüngerer Bruder Martin allerdings hat eine völlig andere Sicht auf diese Zeit, sagt Walter.

In der Zeit, als Martin nach zweimaligen Sitzenbleiben in der elften Klasse das Gymnasium verlassen musste, ging Walter nach Berlin. Dort sind die Archive über die DDR-Sportpolitik, über die er seine Doktorarbeit schrieb. Während der Olympiade 1972 in München verglich er da die DDR- und BRD-Berichterstattung vor dem Fernseher. Amüsiert erzählt er von der Schlagzeile der Bild, die damals beim Gewinn der Weitsprung-Medaille von Heide Rosendahl "'Erstes Gold für Deutschland' feierte, dabei hatte die DDR zu diesem Zeitpunkt schon acht Medaillen".

"Endlich waren die Preußen weg"

"Doch Berlin war nicht meine Stadt", sagt er. Studenten seien damals diskriminiert worden. Jeden Tag habe man in der B.Z. und in der Bild lesen können, wie schlimm und terroristisch das alles an der Freien Universität angeblich war. Dabei wünschte sich der Doktorand, "tatsächlich ein bisschen Auseinandersetzung, so langweilig war das Anfang der 70er Jahre am Otto-Suhr-Institut, wo die angeblich so revolutionären Studenten Tag für Tag an den Zettelkästen wuselten".

Die Langeweile war das eine, das andere war, dass ihn der tägliche Pfiff in der U-Bahn, und dieses preußische "Zurückbleiben", fertig machten. Nach 13 Monaten in Kreuzberg sagte er seiner Freundin, dass er die Stadt verlassen müsse. "So sind wir dann wieder nach hier zurückgekommen", sagt Schulz in seinem linksrheinischen Singsang.

Apropos linksrheinisch: "Für uns in der Familie war klar, dass Adenauer Deutschland geteilt hat und darauf waren wir stolz: Endlich waren die Preußen weg." Das war die Stimmung im Rheinland der 60er Jahre, sagt Walter Schulz. Seine Familie stehe eben in der Tradition des "rheinischen Separatismus", der sich immer eher westwärts, nach Frankreich orientiert, als in Richtung Berlin/Potsdam. Er garniert seine Ausführungen mit der Anekdote, dass der erste Bundeskanzler im Auto immer den Vorhang zuzog, wenn er die Rheinbrücke überquerte, "weil er Sibirien nicht sehen wollte".

Zur Geschwisterschar der Familie Schulz zählen noch der älteste Bruder Erwin und die Schwestern Doris und Brigitte. Zu Hause bei ihnen sei immer Halligalli am Tisch gewesen, ständig hätten sie Besuch gehabt. Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung, Generationenkonflikte inbegriffen. Martin habe bereits als Kind mitbekommen, dass "bei uns wie im Bundestag viele Themen sehr kontrovers diskutiert wurden. Aber er war eben der Kleine, der erst mal kapieren musste".

Vielleicht weil er das Nesthäkchen gewesen sei, habe sich Martin besser mit dem Vater verstanden, dem Polizisten und ehemaligen Wehrmachtssoldaten, den er selbst als distanziert erlebte. Der habe ihn, als er 1947 geboren wurde und der Vater gerade aus der britischen Gefangenschaft kam, nur als "kleinen, quengelnde Scheißer" wahrgenommen. Aber auch er habe seinen Vater "von klein an spüren lassen, dass wir nicht miteinander können. Die einzige Möglichkeit für uns beide war, dass wir auf Distanz gegangen sind". Erst als Walter Mitte 40, Anfang 50 war, "haben wir mehr zueinandergefunden. Auch weil ich erwachsener geworden war".

Rausgeflogen aus der Bundeszentrale für politische Bildung

Kurz nachdem Martin sich den Jungsozialisten in Würselen angeschlossen hatte, flog Walter Schulz als frischgebackener Doktor der Politikwissenschaften 1974 bei der Bundeszentrale für politische Bildung raus, weil man ihm vorwarf, die Behörde zu unterwandern. Später hatte er die Möglichkeit, seine Verfassungsschutzakte zu sehen, gefüllt mit Plakaten und Flugblättern, "die ich als Student ans Schwarze Brett gehängt habe". Fein säuberlich abgeheftet und gesammelt von einem Kommilitonen. Damals sei ihm vorgeworfen worden, er sei Anarchist. Er selbst charakterisierte sich als junger Mann als "freischwebenden Linksintellektuellen". Im Grunde ist er das noch immer, auch wenn er das rote Parteibuch besitzt. So sei er grundsätzlich "für die Auflösung des Verfassungsschutzes" - auch wegen der persönlichen Erfahrungen. Eine Organisation zum Schutz der Verfassung müsse wissenschaftlich und pädagogisch arbeiten und demokratischer Kontrolle unterworfen sein.

Martin machte zwischen 1975 und 1977 eine Ausbildung zum Buchhändler. Diese Leidenschaft für Bücher teilt er mit seinem großen Bruder, der sich beruflich auch mal als Buchhändler betätigte. Allerdings auch als Deutschlehrer, Redakteur und später als Geschäftsführer von sozialen Einrichtungen. Walter gab die Rheinische Zeitung für zwei Jahre wieder heraus, die einst Karl Marx leitete, arbeitete in Duisburg für die gewerkschaftsnahe Zeitung Revier und für die Zeitschrift Moderne Zeiten in Hannover, die ihm allerdings zu sehr von bornierten Kommunisten durchsetzt war. Einen anderen Job im Staatsdienst bekam er nicht - vielleicht, weil auch zwei Herren vom Verfassungsschutz im Vorstellungsgespräch saßen, vermutet er.

Dabei sieht er sich als "Verkörperung des historischen Kompromisses", wie ihn die italienischen Kommunisten in den 70er Jahren mit Sozial- und Christdemokraten eingegangen waren, um die Demokratie gegen die Rechten zu sichern. Gegen Nazis zu sein, sei Tradition in der Familie Schulz. Das habe auch Martin geprägt. Daraus speise sich das Anti-Nationale des SPD-Chefs, der Europa als Verheißung sehe. Seine Politik betreibe Martin "aus Humanismus heraus, der tief in seinem Herzen verankert ist".

Er, Walter, stelle sich eher strukturelle Fragen als Martin, denke noch stärker in gesellschaftlichen Strukturen. So konnte Walter auch Hartz IV unterstützen, "weil dieser Ansatz statt Fürsorge die Selbstverantwortung stärkt". Und die ist ihm wichtig. In Köln habe er es in seinen Jobs und Ämtern so empfunden, dass viele soziale Einrichtungen Armut nur organisieren. "Ich habe immer nach Wegen gesucht, wie man aus Armut herausfindet." Martin hingegen sei stärker als er davon geprägt, "dass man füreinander sorgt - und sich das auch in staatlichen Institutionen wiederfinden soll".

"Er weiß, was Brüche im Leben sind"

Warum spricht sein Bruder eigentlich so offen darüber, dass er dem Alkohol verfallen war und sich anschließend selbst in eine Psychotherapie schickte? "Weil es ansonsten eh am nächsten Tag in der Zeitung gestanden hätte", sagt Walter. "Er weiß, was Brüche im Leben sind. Er kann auch von der dualen Ausbildung reden, weil er das selbst durchlaufen hat. Und davon, dass er kein Abitur hat. Aber in Bezug auf Bildung braucht er sich vor keinem zu verstecken."

In Deutsch und Geschichte sei Martin auf dem Gymnasium richtig gut gewesen und habe besser Französisch gesprochen als sein Lehrer. "Höchstwahrscheinlich war er in diesen Fächern der Durchblicker überhaupt, aber er hatte keine Lust, die Krönungsdaten von Karl dem IV. zu wissen. Obwohl, wenn ich sie abfragen würde, weiß er sie wahrscheinlich." Und Mathe interessierte ihn schlicht und einfach nicht.

Walter denkt, dass sein Bruder bereits mit 17, 18 Jahren in die Krise geriet. Bis dahin sei er in seiner Clique aufgehoben gewesen, die zusammen recht erfolgreich bei SV Rhenania Würselen Fußball spielte. Doch dann verletzte er sich, verlor unmerklich den Anschluss an seine Freunde. Er wollte Anführer sein - und war nur noch Linienrichter. Zunächst habe er das als Hans Dampf in allen Gassen überspielt, aber dann begann er, die Leerzeiten und die Einsamkeit mit Alkohol zu füllen.

Irgendwann aber, kurz vor der Gosse, habe es bei Martin Klick gemacht, "da hat er sich mit 24 Jahren zum letzten Mal die Kante gegeben - und dann war Schluss damit. Endgültig!" Heute helfe es ihm, dass er seit 30 Jahren nicht trinke und nüchtern ins Bett gehe. Sein Bruder habe in den vier Monaten seines stationären Aufenthaltes in einer psychosomatischen Klinik sehr gut gelernt, sich und seine Grenzen klar zu definieren. "Davon lebt er noch jetzt."

"Martin ist ein absoluter Familienmensch"

Sein Bruder hält seine Familie weitgehend vor der Öffentlichkeit verborgen. Seine ein Jahr jüngere Frau Inge ist Landschaftsarchitektin, sie sind 34 Jahre verheiratet und haben zwei Kinder. "Er schützt sie. Er ist ein absoluter Familienmensch. Aus Brüssel ist er jahrelang nach 22 Uhr nach Würselen gefahren und morgens um 5.30 Uhr wieder zurück."

Überhaupt Würselen. Während er, Walter, die Welt auf den Kopf stellen wollte, sei Martin ein Würseler durch und durch geblieben. Nur irgendwie in erweiterter, großdimensionierter Form. Hier trat er in die SPD ein, hier lernte er das Netzwerken und hier wurde er mit 31 zum jüngsten Bürgermeister Nordrhein-Westfalens. Hier ist er mit der halben Stadt befreundet, versippt und verschwägert. "Er braucht seine Leute, seine vertraute Umgebung. Seine Heimatstadt. Weil sie ihn erdet", sagt Walter. Daher rühre vielleicht auch sein Ansatz, immer nah an den Leuten sein zu wollen. Viel näher und lieber jedenfalls bei den Menschen auf der Straße als auf dem diplomatischen Parkett in den Regierungssitzen und Palästen.

Nicht, dass er das nicht könne, aber manchmal, wenn ihm die hochrangigen Politikergespräche zu viel würden, dann erde sich Martin auch durch ein Telefonat mit ihm, Walter. Kontakt haben die beiden jede Woche. Dann diskutieren sie manchmal auch über politische Themen, bei denen sie häufig verschiedener Meinung sind, etwa zu TTIP. "Aber wir streiten um Lösungen, nicht um Grundsätze", sagt Walter. Und wenn Martin das Spiel seines Lieblingsvereins 1. FC Köln nicht gucken kann, gibt ihm Walter die Ergebnisse per SMS durch. Herrlich anachronistisch in einer Welt der Smartphones.

Zum konservativen Seeheimer Kreis in der SPD gehört Martin Schulz seinem Bruder zufolge nicht aus ideologischen Gründen - mit Ideologien habe der noch nie viel anfangen können. Es gehe ihm um den pragmatischen Ansatz. Martin sei eher ein "mitfühlender Linker", und darin ähnlich Ex-Kanzler Gerhard Schröder: "Der fand auch Lösungen überzeugender als Überzeugungen." Martin allerdings sei strikter in seinen Grundsätzen.

Überrascht hat Walter nie, dass sein kleiner Bruder mal so eine Karriere hinlegen würde: "Mir war immer klar, dass er nicht Bürgermeister bleiben wollte." Er habe sich diszipliniert Schritt für Schritt nach oben gearbeitet. Als er dann plötzlich SPD-Chef und K-Kandidat wurde, sei das nur konsequent gewesen. Für Walter Schulz ist auch klar, dass es keine Neuauflage von Schwarz-Rot und damit keinen Vizekanzler Schulz geben wird. Sein Bruder würde mit großer Sicherheit Oppositionsführer, wenn denn die SPD Ende September an der 30-Prozent-Marke kratzt. Aber daran will er gar nicht denken. Denn so sicher er ist, dass sein Bruder Kanzler kann, so sicher ist er sich: "Die Wahl ist noch nicht gelaufen. Der Wechselwille ist da. Er kommt."

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