Martin Schulz:Die Chance des Martin Schulz

Martin Schulz wird nicht Kanzler werden, jedenfalls nicht 2017. Aber er kann der geknickten SPD wieder den Stolz geben, den sie braucht, um eine Zukunft zu haben.

Kommentar von Heribert Prantl

Gabriel weiß es, Schulz weiß es, die SPD-Fraktion weiß es, und der SPD-Sonderparteitag, der demnächst den neuen Parteichef wählen wird, weiß es auch: "Uns aus dem Elend zu erlösen, das können nur wir selber tun." Jeder Sozialdemokrat kennt diesen Satz. Er stammt aus einem Lied, bei dem die Roten feuchte Augen kriegen, bei dem sie Wehmut überfällt. Satz und Lied stammen aus Zeiten, in denen die SPD stolz war und unbeugsam, in denen sie an die Zukunft glaubte und daran, dass die SPD die Zukunft bestimmen wird. Von diesem Stolz ist nicht so viel geblieben.

Der Spruch vom Elend und der Erlösung stammt aus der "Internationale", dem alten roten Sturm-und-Drang-Lied; er bezog sich einst auf die Lage der Arbeiterklasse. Heute bezieht er sich auf die Partei, die einmal die Partei der Arbeiterklasse war. Gilt der Spruch auch für sie?

Sigmar Gabriel hat, nach ein paar leisen Siegen und vielen lauten Niederlagen, sich selbst zurückgenommen und die Zukunft der SPD in die Hände von Martin Schulz gelegt. Die Entscheidung war eine Erlösung für ihn - es ist vielleicht auch eine für die Partei. An die Spitze der SPD und des sozialdemokratischen Wahlkampfs rückt nun ein deutscher Europäer aus Würselen, ein gebildeter Mann, der seine Bildung nicht den Universitäten, sondern eigener Anstrengung verdankt; er ist ein Autodidakt, ein Sozialdemokrat alter Schule, einer, der sich einst aus seinem ganz persönlichen Elend herausgearbeitet hat. Martin Schulz kann die Zeile aus dem alten Arbeiterlied glaubhaft singen. Er hat, nach einer verkorksten Jugend, selber danach gehandelt. Fünf Fremdsprachen spricht Martin Schulz fließend, jetzt muss er zeigen, ob er auch die Sprache der Wählerinnen und Wähler beherrscht.

Martin Schulz wird nicht Kanzler werden, jedenfalls nicht 2017. Er wird, wenn es gut geht, die SPD gestärkt in die Opposition führen. Martin Schulz wird, wenn es richtig gut geht, einer geknickten Partei wieder den Stolz geben, den sie braucht, um Zukunft zu haben. Sigmar Gabriel ist das nicht geglückt. Er hat das über sieben Jahre lang versucht, er war so lange Parteichef wie keiner mehr seit Willy Brandt.

Gabriel hat der SPD insoweit, nach ständigen Wechseln im Vorsitz, wieder eine gewisse Stetigkeit gegeben. Mehr hat er ihr nicht geben können; auch wenn er es versucht hat. Aber sein Verhältnis zur Partei war zu gebrochen; er verkörperte, ob er wollte oder nicht, das Leiden der SPD an der Agenda 2010. Er hatte Erfolge, aber keinen Erfolg. Er konnte in der Koalition mit der Union viele sozialdemokratische Projekte durchsetzen, aber er konnte für die SPD kein Kapital daraus schlagen. Er war ein Verwalter des Elends der SPD.

Ein Mann aus der kleinen Provinz mit Erfahrung in der großen Welt

Gabriel übergibt die Partei und die Führung des Wahlkampfs an einen Mann, der sich selbst und andere schwindlig reden kann, an einen, der Aufbruch und Elan verbreiten kann - und der jetzt zeigen muss, dass er mehr ist als ein Windmacher. Aber die SPD, eine dümpelnde Partei in der Dauerflaute, ist schon dankbar für diesen Wind. Martin Schulz ist ein Europäer, ein Mann aus der kleinen Provinz mit Erfahrung in der großen Welt. Er ist nicht der Erlöser der Sozialdemokratie. Er ist aber, und das ist ja schon viel, ein Hoffnungsträger - und die Hoffnung seiner Partei ist, dass die Hoffnung zunächst einmal bis zum 24. September trägt.

Eine derangierte Volkspartei ist nicht ein Apparat, in den man einfach eine neue Batterie legt und dann ist alles wieder gut. Aber ohne diese Batterie, ohne den Akku, geht es eben gar nicht. Das ist die Chance des Martin Schulz, das ist die Chance für die SPD. Da ist einer, der begeistert ist von und für Europa; und das ist schon viel in diesen Zeiten. Da ist einer, der begeistert und begeisternd von Gerechtigkeit reden kann - und an dem nicht eine Politik klebt, die dieses Reden unglaubwürdig macht. Reicht das? Leidet die SPD womöglich nicht nur an ihrem Personal, sondern in Wahrheit daran, dass ihre Zeit vorbei ist? Dann läge es gar nicht mehr an ihr, sich aus dem Elend zu erlösen.

Der SPD geht es schlecht, obwohl ihr Ur-Thema die Wähler umtreibt, wie schon lange nicht mehr: Gerechtigkeit. Was ist Gerechtigkeit in globalen Zeiten, wie geht sie? Die Sozialdemokratie hat damit so viel Erfahrung wie keine andere Partei - aber man spürt von dieser Erfahrung zu wenig. Die Sozialdemokratie hat so viel internationale Erfahrung wie keine andere Partei. Aber man merkt davon nichts. Wo ist die europaweit agierende Linke, wo ist die europaweit agierende Sozialdemokratie, die dem Finanzkapitalismus Grenzen setzt? Man liest vom Treffen der sogenannten Rechtspopulisten aus ganz Europa. Wann liest man von den Treffen der Sozialisten und Sozialdemokraten, was hört man von ihren Konzepten?

Neue Besen kehren gut, heißt das Sprichwort. Die SPD hat in den vergangenen Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass sich die neuen Besen schnell abnutzen. Auch das ist ein Elend, aus dem sich die SPD befreien muss.

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