Marokko:Heimat ohne Perspektive

Marokko: Mohammed El Asrihi nahm an Kundgebungen teil, deshalb sitzt der Fotojournalist seit 6. Juni in Haft. Derzeit befindet er sich im Hungerstreik. Im Gefängnis bettelte er zwei Wochen lang, um seine Brille zu bekommen.

Mohammed El Asrihi nahm an Kundgebungen teil, deshalb sitzt der Fotojournalist seit 6. Juni in Haft. Derzeit befindet er sich im Hungerstreik. Im Gefängnis bettelte er zwei Wochen lang, um seine Brille zu bekommen.

(Foto: privat)

Aktivisten kämpfen seit Jahren für ein besseres Leben im vernachlässigten Norden des afrikanischen Landes. Dafür werden sie von der Regierung nun abgestraft.

Von Moritz Baumstieger

Nach 180 Tagen in Haft beschließt Mohammed El Asrihi, dass er jetzt sein Leben riskieren muss. Zwar hat nun endlich der Prozess begonnen, Marokkos Staatsmacht müsste jetzt Beweise für all das vorlegen, was sie ihm und den anderen Aktivisten aus der Rif-Region im Norden des Landes vorwirft: separatistische Bestrebungen und die Planung eines Umsturzes, Aufrufe zur Gewalt, die Annahme von Geld aus dubiosen ausländischen Quellen. Dass diese Anschuldigungen lächerlich sind, geben sogar Beamte des marokkanischen Königs zu, wenn man sie nicht namentlich zitiert - dass es dennoch zu Verurteilungen kommen wird, sagen sie aber auch. Und weil auch Mohammed El Asrihi ahnt, dass er keinen fairen Prozess bekommen wird, tritt er am 3. Dezember mit elf weiteren Angeklagten in Hungerstreik.

Wenn El Asrihi und die anderen Aktivisten an diesem Dienstag nach einer Unterbrechung des Verfahrens wieder in den Gerichtssaal geführt werden, lässt sich ein weiteres Mal studieren, wie es um das angebliche "sichere Herkunftsland" Marokko heute bestellt ist: Als der arabische Frühling im Jahr 2011 in der Region eine Regierung nach der anderen in Bedrängnis brachte, reagierte König Mohammed VI. mit schnellen Zugeständnissen, für die er weltweit gelobt wurde: einer neuen Verfassung mit einem gestärkten Parlament, aus dessen größter Fraktion er nun den Premierminister zu berufen hat. Die Demonstranten, die auch in Marokko nach Freiheit gerufen hatten, gingen wieder nach Hause. Viele von ihnen waren dankbar, dass Marokko durch die Reformen das Blutvergießen und die Bürgerkriege erspart blieben, die in anderen arabischen Staaten bald auf den Frühling folgten.

Im Oktober 2016 jedoch kam es in der Stadt al-Hoceima im küstennahen Rif-Gebirge zu einem Zwischenfall, dessen Nachwirkungen bis heute andauern: Ein Fischhändler namens Mouhsin Fikri wurde in einem Müllauto zerquetscht, als er seine von der Polizei konfiszierte und weggeworfene Ware retten wollte. Für den Tod des 31-Jährigen machten die Menschen in der Stadt die "hogra" verantwortlich, wie in Marokko die Willkür der Staatsmacht vom Volk genannt wird. Auf Massendemonstrationen verglichen die Teilnehmer Fikri mit dem von der Polizei schikanierten Obsthändler Mohamed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung die Volkserhebung in Tunesien ausgelöst hatte.

Die ersten 14 Tage verbrachte El Asrihi ohne Kleidung im Gefängnis in Casablanca

Und auch mehr als ein Jahr nach dem Tod von Fikri gehen die Menschen in der Rif-Region auf die Straße. Bei den spontanen Kundgebungen schlossen sich Aktivisten zusammen, um gegen die Vernachlässigung der Region zu kämpfen. Hohe Arbeitslosigkeit, keinerlei Einrichtungen für weiterführende Bildung, keine Krankenhäuser und dazu noch eine miese Verkehrsanbindung: Hassan II., der Vater des jetzigen Königs, hatte die traditionell aufsässige Berber-Region abgestraft, schloss sie Jahrzehnte von Investitionen aus. Sein Thronfolger Mohammed VI. bemühte sich zwar um eine Aussöhnung, doch das Fördergeld kamen bei den Menschen nicht an, versickerte irgendwo. Darauf wollte die sich nun formierende "Hirak ash-Shaabi" ("Volksbewegung") aufmerksam machen.

Die Staatsmacht reagierte jedoch mit aller Gewalt. Sie riegelte die Region mit Straßensperren ab, ausländische Journalisten haben keinen Zutritt mehr. Die Polizei verhaftete den Hirak-Führer Nasser Zefzafi und mit ihm Hunderte weitere Aktivisten. Auch Mohammed El Asrihi, den alle nur "Med" nennen: Der Fotojournalist war Direktor des Onlinemagazins Rif24.com, das über die Proteste berichtet und ausländische Agenturen mit Bildern und Informationen versorgt. Am 6. Juni dieses Jahres, so erzählt es El Asrihis Bruder der Süddeutschen Zeitung, schubste ihn die Polizei um fünf Uhr morgens im Schlafanzug in einen Polizeitransporter. Die ersten 14 Tage verbrachte El Asrihi ohne Kleidung und mitstarken Kopfschmerzen im Okasha-Gefängnis in Casablanca, bei der Verhaftung war den Polizisten egal, dass der 30-Jährige um seine dringend benötigte Brille bettelte. Als ein Anwalt schließlich sie und etwas Kleidung ins Gefängnis bringen darf, fallen ihm deutliche Zeichen von Folter am schmächtigen Körper des Fotografen auf.

Nun müssen El Asrihi und der ebenfalls hungernde Wortführer der Aktivisten, Nasser Zefzafi, mit harten Urteilen rechnen - selbst minderjährige Demonstranten wurden bereits zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Während König Mohammed VI. im Sommer wenige Aktivisten begnadigte, versucht er die Situation jetzt auf andere Weise zu beruhigen: Vergangene Woche feuerte er 180 hochrangige Beamte, die bei Entwicklungsprojekten für die Rif-Region geschludert oder die Hand aufgehalten haben sollen. Schon im Oktober mussten aus diesem Grund drei Minister gehen.

Vergangene Woche nun berichtete der Vater des Aktivistenführers Zefzafi der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf von der Situation. Der Bruder von Mohammed El Asrihi befürchtet, dass sich viele junge Menschen aus der Region ebenfalls nach Norden wenden werden: "Das Leben hier im Rif ist eine Katastrophe", sagt er. "Viele versuchen abzuhauen, warten nur darauf, um über das Meer nach Europa zu entkommen."

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